Lübeck/Reinbek. Bewohnerin eines Pflegeheims steht wegen versuchten Totschlags vor Gericht. Gutachter gehen von Schuldunfähigkeit aus.
Im Rollstuhl wird Helga W. (alle Namen geändert) in den Saal des Lübecker Landgerichts geschoben. Das silbrig-graue Haar trägt die Seniorin zu einem Zopf nach hinten gebunden. Die alte Frau blickt sich fragend um, runzelt die Stirn. Nichts lässt erahnen, dass Helga W. die Angeklagte in diesem Verfahren ist. Die Staatsanwaltschaft wirft der 78-Jährigen versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vor (Az.: 705 Js 52189/20). Die Bewohnerin eines Reinbeker Pflegeheims soll am 17. Oktober vergangenen Jahres versucht haben, ihre Zimmernachbarin mit einem Kopfkissen zu ersticken. Die 76-Jährige überlebte nur, weil ein Mitarbeiter auf die Damen aufmerksam wurde und Helga W. losreißen konnte.
Die Angeklagte drückte dem Opfer ein Kissen ins Gesicht
„Die Angeklagte kam am frühen Morgen in das Zimmer des Opfers, das zu diesem Zeitpunkt auf dem Rücken im Bett lag“, heißt es in der Anklage. Die 76-Jährige sei bettlägerig, der Angreiferin wehrlos ausgeliefert gewesen. „Dann nahm die Beschuldigte ein Kissen und drückte es der Mitbewohnerin in das Gesicht, um diese zu töten“, heißt es weiter. Ein Angestellter habe die 78-Jährige gewaltsam wegziehen müssen.
Die Frau soll an fortgeschrittenem dementiellen Syndrom leiden
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Reinbekerin zum Zeitpunkt der Tat schuldunfähig war. „Die Angeklagte leidet nach vorläufiger Einschätzung eines forensisch-psychiatrischen Sachverständigen unter einem fortgeschrittenen dementiellen Syndrom“, sagt Staatsanwältin Anna Feegers. Verhandelt wird deshalb nicht in einem herkömmlichen Straf-, sondern in einem sogenannten Sicherungsverfahren. „Im Falle mutmaßlich schuldunfähiger Angeklagter wird dabei über die Unterbringung in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus entschieden“, sagt Feegers.
Unterbringung in geschlossener psychiatrischer Klinik möglich
Diese werde gerichtlich angeordnet, wenn Wiederholungsgefahr bestehe und der Beschuldigte eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. „Krankheitsbedingt ist im vorliegenden Fall davon auszugehen“, so Feegers. Derzeit ist Helga W. vorläufig in einer Psychiatrie in Schleswig untergebracht. Das 76 Jahre alte Opfer soll kurz nach der Tat kollabiert sein. Die Seniorin wurde in das Krankenhaus St.-Adolf-Stift eingeliefert und musste stationär behandelt werden. Auch sie soll an Demenz erkrankt sein.
Wie stark die Erkrankung bei Helga W. fortgeschritten ist, wird bereits kurz nach Verhandlungsbeginn deutlich, als Richter Christian Singelmann die Personalien der 78-Jährigen aufnehmen möchte. Die Frage nach ihrem Namen kann die Seniorin nach kurzem Nachdenken noch beantworten. Doch schon als der Vorsitzende der I. Großen Strafkammer die alte Dame nach ihrem Geburtsdatum fragt, weiß Helga W. nicht mehr weiter.
Der Vorsitzende Richter bricht Befragung ab
„Sind Sie am 24. Oktober 1942 geboren?“, versucht es Singelmann noch einmal mit Hilfe. Die Seniorin blickt den Richter fragend an, sagt: „Sag du mal, ist das richtig?“ Singelmann unternimmt einen neuen Anlauf. „Ich bin der Vorsitzende Richter, darf ich mit Ihnen sprechen?“, fragt er. „Wenn es denn sein muss“, entgegnet Helga W. mit verwirrtem Gesichtsausdruck. Der Vorsitzende Richter bricht die Befragung daraufhin ab.
Zwei Mitarbeiter der Reinbeker Pflegeeinrichtung sagen vor Gericht als Zeugen aus. „Ich hatte Frühdienst und wollte gerade den Essenswagen holen“, sagt ein 20 Jahre alter Pflegehelfer. Da habe er Gemurmel aus dem Zimmer von Marianne S. gehört. „Die Tür stand offen, die von Frau W. genauso, das kam mir gleich komisch vor“, sagt er. Helga W. wohne in dem Zimmer direkt neben dem des Opfers. „Ich bin dann hin und da habe ich gesehen, wie Frau W. mit ausgestreckten Armen über das Bett von Frau S. gebeugt stand und ihr mit beiden Händen ein Kissen ins Gesicht gedrückt hat“, so der Reinbeker.
Pflegehelfer musste Helga W. von der Mitbewohnerin wegziehen
Dazu habe die 78-Jährige gemurmelt: „Jetzt wirst du sterben.“ Er habe Helga W. noch aufgefordert, aufzuhören, doch habe diese nicht abgelassen. „Ich habe sie dann weggezogen“, so der Pflegehelfer. Anschließend habe er eine Kollegin zur Hilfe gerufen, die sich um Marianne S. gekümmert habe. Während der Aussage wippt Helga W. ununterbrochen mit ihrem Oberkörper in ihrem Rollstuhl vor und zurück.
78-Jährige schon mehrfach handgreiflich geworden
Hin und wieder lacht die Seniorin plötzlich laut auf. Ein Pfleger, der hinter der 78-Jährigen sitzt, reicht ihr eine Schnabeltasse, aus der die alte Dame mehrere Schlucke trinkt. „Frau S. war danach überall im Gesicht rot und hat nach Luft gerungen“, sagt die Pflegerin, die nach der Tat hinzugeeilt war. Die Seniorin habe einen verängstigten Gesichtsausdruck gehabt. „Sie kann wegen der Demenz kaum mehr sprechen“, so die 47-Jährige. Kurz darauf habe diese mehrfach erbrochen und sei zusammengebrochen.
Die Pflegerin geht von einem wahllosen Angriff aus. „Die kannten sich gar nicht“, sagt die 47-Jährige. Helga W. sei wiederholt durch ihr aggressives Verhalten aufgefallen. „Mal legte sie einem dem Kopf auf die Schulter und wollte schmusen, im nächsten Moment hat sie dich beschimpft“, sagt die Pflegerin. „Es fielen dann Aussagen wie ‚Arschloch“ und ‚Ich werd‘ dich schlagen‘, das war normal“, so die 47-Jährige. Manchmal sei Helga W. auch handgreiflich geworden, habe andere Senioren im Vorbeigehen geboxt, Pflegekräfte geschubst und einmal auch eine Mitbewohnerin mit Kaffee übergossen.
Das Urteil wird für Anfang Juni erwartet
Auch bei ihrer Verlegung in die Psychiatrie soll die 78-Jährige sich heftig gewehrt und die Sanitäter beschimpft haben. In der Pflegeeinrichtung sind nach Angaben der Zeugin rund 70 Prozent der Bewohner dement. „Die meisten sind aber friedlich, Frau W. war ein Extremfall“, so die Pflegerin. Das Verfahren soll in zwei Wochen, am 18. Mai, fortgesetzt werden. Insgesamt hat das Gericht vier Verhandlungstage anberaumt und sechs Zeugen sowie zwei Sachverständige geladen. Das Urteil soll Anfang Juni fallen.