Hamburg. Ist Vorsicht wirklich besser als Nachsicht? Ist ein verlängerter Lockdown der richtige Weg für diese Pandemie? Zwei Meinungen.
PRO:
Ja! Sonst wären vielleicht alle bisherigen Mühen umsonst
Natürlich sehnen wir uns alle nach Lockerungen – und zwar möglichst bald. Der Lockdown drückt uns nach zwei Monaten heftig aufs Gemüt; wir sind zunehmend davon erschöpft, gleichzeitig unsere Kinder zu betreuen und zu arbeiten. Nicht nur die Jüngeren vermissen ihre Freunde, und Ladenbesitzer und Gastronomen sorgen sich immer stärker um ihre Existenz. Und dennoch wären vorschnelle Öffnungen zum jetzigen Zeitpunkt völlig falsch.
Denn seit das öffentliche Leben Mitte Dezember heruntergefahren wurde, hat es eine neue Entwicklung gegeben, die entscheidend für den weiteren Verlauf der Pandemie werden könnte. Virologen warnen davor, dass Mutationen des heimtückischen Coronavirus auch bei uns für sprunghaft steigende Zahlen sorgen könnten wie in England, Irland und Südafrika. Schon jetzt wird die Mutante auch bei uns in fünf Prozent der sequenzierten Proben gefunden. Niemand weiß, wie sich ihre zunehmende Verbreitung bei uns auswirken wird. Auch nicht die Politikerinnen und Politiker, die ihre schwierigen Entscheidungen in dieser Pandemie oftmals auf Basis teils unvollständiger Informationen treffen müssen.
Sie tun gut daran, in dieser kritischen Phase der Pandemie vorsichtig mit Bedacht vorzugehen. Denn würden sie das Leben jetzt rasch wieder hochfahren, könnten sie damit all das in Gefahr bringen, was wir gemeinsam in den vergangenen Monaten durch so unendlich mühsamen Verzicht erreicht haben – die Zahlen könnten hochschnellen, und Geschäfte, Restaurants, Schulen und Kitas müssten erneut schließen. Gerade Familien ginge dann endgültig die Kraft aus.
Ja, die Politik hat die ausgegebene Zielmarke einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Fällen kurz vor Erreichen auf 35 korrigiert. Aber so ist es eben, wenn Politik auf laufende Veränderungen reagieren muss. Unser größter Fehler im Umgang mit dieser Pandemie war, dass wir im vergangenen Herbst viel zu lange abgewartet haben und dann erst mal nur halbherzige Einschränkungen im Lockdown light beschlossen haben. Die Politik hat damals auf die vielen Mahner gehört, die in jeder Einschränkung einen unzumutbaren Eingriff in ihre Freiheit und kein Gemeinschaftswerk sehen. Wir sollten diesen Fehler nicht wiederholen. Insa Gall
KONTRA:
Nein! Die Menschen brauchen jetzt Öffnungsperspektiven
Haben Sie bislang auch jeden Morgen auf die aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts geblickt? Hatten Sie gehofft, dass bald die magische 50er-Marke geknackt wird? Dass erste Öffnungen möglich sind? Dann haben Sie Pech gehabt. Zwar kommt die Stadt nach einem inzwischen dreieinhalb Monate währenden „Lockdown light“ mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 59 dem Ziel recht nahe, aber seit dem Gipfel der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gilt plötzlich eine neue Marke. Nun soll die Inzidenz nur noch 35 betragen.
Was machen wir, wenn dieser Wert erreicht wird? Geht die Politik dann auf 20? So verständlich die Angst vor den Mutationen ist, so richtig und wichtig Vorsicht ist, die Politik kann nicht in einem Marathonlauf kurzerhand die Regeln ändern – dann verliert sie die Menschen, die man im erfolgreichen Kampf gegen die Pandemie benötigt.
Es geht hier nicht um eine kleine Stellschraube, es geht längst um die großen Grundrechte unserer Demokratie, um unantastbare Rechte der Bürger gegenüber dem Staat. Grundrecht heißt nicht, dass ein Grund genügt, sie einzuschränken: In Großbritannien und Irland gehen die Infektionszahlen übrigens deutlich zurück. Die Stimmung in Deutschland brachte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer auf den Punkt: „Die Leute sind nach Monaten im Lockdown kaputt.“ Das Kanzleramt sei gar nicht interessiert, über Lockerungen zu sprechen. Und man muss konstatieren: Hamburg auch nicht.
Bürgermeister Peter Tschentscher, der besonnen durch die ersten Monate der Pandemie führte, hat sich inzwischen offenbar bei Bayerns Ministerpräsidenten Söder untergehakt, um jede Lockerung zu verhindern. In Hamburg ist – abgesehen von der Linkspartei und der AfD – die größte Opposition wohl im Senat anzutreffen. SPD, CDU und Grüne haben sich längst im Lockdown eingemauert.
Dabei müssen wir dringend andere Dinge diskutieren – wie können wir mit dem Virus leben und es trotzdem kleinhalten? Was müssen wir ändern in der Teststrategie, beim Datenschutz, beim Schutz der Risikogruppen, beim Aufbau von Impfkapazitäten? Deutschland kann nur Lockdown. Um in der Pandemie zu bestehen, ist das viel zu wenig. Matthias Iken