Claus Herch, der erste Redaktionsleiter von Abendblatt.de, über den Start 1996 und die spannendsten Online-Erlebnisse
Abendblatt.de wird 25 Jahre alt – und was liegt bei einem solchen Jubiläum näher, als auch einmal zurückzublicken auf die Anfänge: Claus Herch, damals erster Redaktionsleiter von Abendblatt.de, erinnert sich im Gespräch an die ersten Schritte des Hamburger Abendblatts in die digitale Welt, an viel Handarbeit, eine Startup-Atmosphäre in einem winzigen Büro hinter den Fahrstühlen, an Angst vor der Zukunft und Online-Innovationen auf der „Cap San Diego“.
Hamburger Abendblatt: Wie war das damals, als die wenigen Computer beim Abendblatt noch nach den Planeten unseres Sonnensystems benannt werden konnten und die Redaktion erstmals digitales Neuland betrat?
Claus Herch: Die Planeten-Rechner kamen sogar noch etwas später. Angefangen haben wir eigentlich mit zwei normalen PC. Wir haben abends die Texte der gedruckten Zeitung aus dem Redaktionssystem kopiert und für das Internet aufbereitet. Das war viel stupides Copy und Paste, richtig Handarbeit. Wir konnten immer erst nach dem Redaktionsschluss der Zeitung loslegen. Das waren richtige Nachtschichten bis 2 oder 3 Uhr nachts.
Hamburger Abendblatt: Wann und wie hat das alles angefangen?
Claus Herch: Ich habe mit Kollegen zusammen im damaligen Wochenend-Journal – die, meines Wissens erste regelmäßige Computer-Seite in einer Regionalzeitung erfunden und auch deshalb sprach mich die Chefredaktion ab und an an, wenn es um digitale Themen ging. 1996 gingen die ersten großen nationalen Titel online und auch bei Axel Springer, zu der das Abendblatt damals gehörte, gab es entsprechende Überlegungen für die Zeitungen.
Hamburger Abendblatt: Was war da die Idee?
Claus Herch: Um das zu beschreiben müssen wir einmal ein wenig in die Steinzeit des Digitalen zurückblicken: Wir haben damals versucht mit der Telekom einen Weg zu finden, um die Zeitung Lesern im Internet zur Verfügung zu stellen. Das war aber ein geschlossenes System auf Basis von T-Online. Diesen Dienst „Go-On“ hatte Axel Springer eigens für seine Zeitungen gegründet. Der Vorteil wäre gewesen, dass schon von Anfang an eine Bezahlmöglichkeit bestanden hätte. Leider Gottes hat uns aber die Telekom mehr versprochen, als zum Start möglich war. Die Idee der Monetarisierung konnte mangels Reichweite einfach nicht umgesetzt werden. Und so haben wir uns schnell wieder von T-Online unabhängig gemacht und Abendblatt.de ins ganz normale Internet gestellt. Erstes Geld haben wir dann mit sogenannten Bannern auf der Webseite und mit den Kleinanzeigen verdient.
Hamburger Abendblatt: Wie sah damals die Seite aus? Ich habe ein Bild gesehen. Da sieht man im Grunde genommen nur eine Stadtsilhouette. Keinen einzigen Text…
Claus Herch: Wenn man sich die Seite heute anschaut, wirkt das Lichtjahre entfernt. Man sah auf der Startseite eine Stadtsilhouette und am Fuß dieser Grafik waren mehrere Knöpfe zu sehen, die die einzigen Navigations-Punkte waren. Hier kam man dann zu den verschiedenen Bereichen wie Nachrichten aus dem Lokalen der Wirtschaft, Sport, Hamburg-Live und eben auch zu den Anzeigen kommen konnte. Heute sieht man auf der ersten Seite viele Inhalte – und gleich viel zu lesen. Damals war das nur eine Einstiegs-Seite, die ein Versuch war, einen sehr einfachen Zugang in die neue Onlinewelt zu ermöglichen. Aber die Seite gab es nur wenige Monate. Dann haben wir festgestellt, dass die Benutzerfreundlichkeit, wie wir sie uns vorgestellt hatten, einfach nicht erreicht werden konnte.
Hamburger Abendblatt: In einer Serie zum Start von abendblatt.de haben wir in der Zeitung erst einmal erklärt, wie man mit einem 14.400-Baud-Modem online geht und was man im Internet alles finden kann. Das waren noch Zeiten…
Claus Herch: Also für mich war das schon Hightech damals! Meine ersten Computer-Erfahrungen habe ich in der Schule gemacht, da habe ich Texte und Programme auf Lochstreifen abgespeichert. Und als wir mit Abendblatt.de starteten gab es ja schon Festplatten, die sage und schreibe einige Hundert Megabyte (nicht Giga- oder Terabyte!) hatten. Wir haben damals gedacht, man braucht nie was Größeres, denn da passen ja 25 Versionen der Bibel drauf und alle Texte, die das Abendblatt in den nächsten 100 Jahren veröffentlicht.
Hamburger Abendblatt: Aber die Realität hat uns eines Besseren belehrt…
Claus Herch: Damals waren die Internetleitungen irre langsam. Wenn wir heutige Internetseiten versuchen würden, damit aufzurufen, würde man Klick machen, dann könnte man Kaffeekochen und auch noch Frühstück bereiten. Und wenn man dann so kurz davor ist, das Haus zu verlassen, dann wäre die Startseite aufgebaut. So komplex sind die Internetseiten heute. Damals war die Herausforderung eine andere. Wir waren sehr textlastig, hatten kaum Grafiken auf der Seite und viel kleinere Bilder. Selbst das damals scheinbar rasante ISDN hatte nur einen Bruchteil der Geschwindigkeit des heutigen Mobilnetzes.
Hamburger Abendblatt: Ich erinnere mich an die ersten Redaktionsräume von Abendblatt.de: Da wurde ein zusätzlicher kleiner Raum hinter den Fahrstühlen geschaffen.
Claus Herch: Ja, das war eigentlich ein klitzekleines Büro in einer Ecke, eines riesengroßen Gebäudes. Aber sehr bald bekamen wir größere Räume. Danach waren wir dann relativ schnell zu fünft, denn die Arbeit war zu zweit auf Dauer nicht zu schaffen. Mit dem Umzug kamen übrigens auch die Rechner, die nach dem Planeten benannt wurden. Auch wir hatten nicht mehr als acht Planeten … Und in der Hochphase dann um 2000 rum, waren wir dann eine tolle und sehr engagierte Mannschaft von knapp 25 Personen.
Hamburger Abendblatt: Damals war das ja noch stark getrennt von der Zeitungsredaktion. Wie war da die Zusammenarbeit?
Claus Herch: Wir haben natürlich jeden Tag an den Redaktionskonferenzen teilgenommen und immer geschaut: Es gab einen direkten Austausch mit der Chefredaktion oder einen Informationsaustausch mit den Ressorts. Wenn etwa ein großes Ereignis wie Olympische Spiele anstanden haben wir uns natürlich mit den Kollegen vom Sport sehr eng abgesprochen. Wir haben auch darauf geschaut, was wir ergänzend online machen können. Neben den Zeitungsinhalten haben wir auch damals erste Themen eigenständig für Online gestemmt. Aber eine so enge Verzahnung von Print und Online wie heute gab es damals noch nicht.
Hamburger Abendblatt: Wie war das eigentlich beim Start: Gab es damals schon Analysemöglichkeiten, mit denen ihr sehen konntet von wie vielen Lesern ein Artikel aufgerufen wurde?
Claus Herch: Wir haben von Anfang an Leistungsdaten erhoben. Wir konnten sehen, wie viele unterschiedliche User uns besucht haben und wie viele Seiten aufgerufen wurden.
Das war natürlich noch nicht so filigran wie heute, aber die Leistungsdaten mussten wir einfach haben, um zu sehen: Passt unser Angebot? Erreichen wir die Menschen überhaupt? Gibt es bestimmte Themen, die die Menschen besonders interessieren? Oder auch: Gibt es Themen, die sie gar nicht lesen wollen? Also das haben wir damals auch schon alles beobachtet. Übrigens: Auch in der Anfangszeit gehörte Abendblatt.de schon zu den am meisten genutzten Tageszeitungsangeboten in Deutschland.
Hamburger Abendblatt: Also hat sich soviel gar nicht getan?
Claus Herch: Naja: Wir hatten damals einen Käfer und eine Landkarte um von A nach B zu kommen. Die Kollegen heute haben ein modernes Elektro-Auto mit Navigationssystem.
Hamburger Abendblatt: Wenn du zurückblickt auf die auf die mehr als 20 Jahre, die du Abendblatt.de begleitet hast. Was waren die unvergesslichen oder wunderbaren Momente, die du hier erlebt hast?
Claus Herch: Ich picke einmal zwei heraus. Eines, an das ich mich also sehr gerne erinnere – und eines, an das ich wie viele andere Menschen noch immer mit Schrecken zurückdenke. Ich beginne mit dem Schlimmsten: Das waren in meiner Zeit die Anschläge in New York auf das World Trade Center 2001. Wir hatten damals in der Onlineredaktion immer schon parallel mehrere Fernsehsender laufen – auch CNN – um zu sehen, was gerade Aktuelles passiert. Und plötzlich sahen wir diese Bilder. Ein Flugzeug, das in ein Hochhaus flog und explodierte. Wir begannen sofort aktuell zu berichten. Das war wirklich eines der ersten Ereignisse bei dem wir als Online-Redaktion völlig eigenständig, im Minutentakt neue Nachrichten veröffentlicht haben. Das war so groß, so wichtig, dass wir nicht auf Berichte der Zeitungskollegen warten konnten.
Hamburger Abendblatt: Das hat die Arbeit wahrscheinlich nachhaltig verändert.
Claus Herch: Definitiv! Das Jahr hat alles verändert. Danach ging's eigentlich richtig los. Die zweite und die andere Sache, an die ich mich hingegen sehr gern erinnere: Das war zeitlich deutlich früher und zeigt, wie innovativ wir damals waren. Bei einer Sonderfahrt anlässlich eines Hafengeburtstags Ende der 90er Jahre mit der „Cap San Diego“ nach Cuxhaven haben wir als Live-Event online begleitet. Auf einer digitalen Seekarte konnten die Leser immer sehen, wo sich das Schiff gerade befindet. Wenn man auf bestimmte Positionen klickte, konnte man dann die Live-Berichterstattung vom fahrenden Schiff lesen und Fotos von Bord sehen. Das war das erste Mal, soweit ich mich erinnern kann, dass so ein Event online überhaupt live übertragen wurde - und wir haben damit sogar auch noch Geld verdient.
Hamburger Abendblatt: Das war ja noch in den vorhin erwähnten langsamen Modem-Zeiten…
Claus Herch: Ja, das das war schon eine Herausforderung. Und natürlich hat es nicht immer so funktioniert, wie wir es uns vorgestellt haben. Manchmal hat es auch 5 bis 10 Minuten gedauert, bis die Texte oder Bilder zu sehen waren. Die Datenmengen waren einfach für die damaligen Handys riesig. Aber im Großen und Ganzen hat das sehr gut funktioniert.
Hamburger Abendblatt: Heute werden bei Abendblatt.de an 365 Tagen im Jahr von 6 Uhr morgens bis Mitternacht Nachrichten veröffentlicht. Wie war das damals in der Anfangszeit?
Claus Herch: Wir haben relativ schnell nach der Startphase begonnen, schon morgens um 7 oder 8 Uhr zu starten. Die Hauptarbeit aber war lange Zeit am Abend, wenn Kollegen dafür gesorgt haben die Inhalte aus der Zeitung des nächsten Tages für Online aufzubereiten. Zum Glück mussten wir irgendwann nicht mehr alles herüberkopieren. Es gab dann eine technische Verbindung zwischen dem Redaktionssystem und dem Online-System. In der ersten Zeit von Abendblatt.de gab es nur an sechs Tagen neue Nachrichten. Das war so, weil wir ja für den siebten Tag keine eigenen Inhalte hatten. Denn am Sonntag erschien keine Zeitung.
Hamburger Abendblatt: Haben sich die Kollegen aus der Abendblatt-Redaktion damals eigentlich für Online interessiert?
Claus Herch: Also es gab einige Kollegen, die haben sich sehr interessiert. Aber es gab durchaus Kollegen, die Angst hatten, dass wir die Zeitung ablösen und sie arbeitslos machen. Denen habe ich immer gesagt: Als Redaktion ist es nicht unsere Aufgabe, schwarze Farbe auf weißes Papier zu bringen, sondern Inhalte zu erstellen. Und Online ist ein weiterer Vertriebsweg für Journalismus. Einige haben das früh für sich akzeptiert, andere – sind in irgendwann den Ruhestand gegangen.
Hamburger Abendblatt: Aber es ist nach wie vor verdammt schwierig mit Journalismus im Internet die Gehälter der Journalisten zu verdienen.
Claus Herch: Ja, die große Frage war von Anfang an: Wie kriegt man es hin, dass Menschen im Internet für Inhalte bezahlen? Zunächst gab es die Idee, einzelne Artikel zu verkaufen, damals für ein paar Pfennige. Aber es existierte kein praktikabler und finanzierbarer Weg dafür. Die einzige Chance ist bis heute ein Abo, denn sonst ist allein der Aufwand für die Abrechnung schon zu teuer. Glücklicherweise hat sich die Idee, dass man ein digitales Nachrichtenangebot wie eine gedruckte Zeitung abonniert, mittlerweile bei vielen etabliert.
Hamburger Abendblatt: Heute bist du Privatier, wie du so schön sagst. Aber eigentlich bleibst Du deinem Thema treu, oder?
Claus Herch: Ja, das ist ja so. Ich betreue und berate Vereine und Unternehmen bei Fragen der Digitalisierung und den damit verbundenen Veränderungen. Außerdem ist es der Klassiker, den auch Mediziner sehr gut kennen: Wenn die Leute wissen, was sie so machen, werden sie auch angesprochen. Nach dem Motto: Du, ich habe da so ein Wehwehchen. Kannst du mir mal helfen? Und so ist auch, wenn man einmal zu laut sagt: Ich habe da mal was mit online gemacht. Also ist es bei mir nicht anders. Neben anderen Projekten betreue ich - auch als kleine Herzensangelegenheit - die Webseite der Aktion „Lese-Zeichen setzen“, die mahnend an die Bücherverbrennungen zur Zeit des Nationalsozialismus in Hamburg erinnert. Dem Allee Theater in Altona helfe ich bei kleineren Problemen mit der Webseite und unterstütze bei Fragen zur Weiterentwicklung des digitalen Angebotes. Das mache ich allerdings pro bono, da ich diese Themen wichtig finde und natürlich auch weil ich immer noch Spaß daran habe…
Hamburger Abendblatt: Also einmal online, immer online.
Claus Herch: So ist es!