Hamburg. Dieser Frage hat sich nun sogar Philosophie-Altmeister Jürgen Habermas angenommen – womöglich zu spät.

Facebook ist für die gesellschaftliche Atmosphäre, was die Mineralölindustrie für das Weltklima ist – eine ziemliche Belastung. Beide waren eine ganze Weile konkurrenzlos, aber die besten Zeiten sind vorbei. Lobbyisten und Mietmäuler zögern den Niedergang hinaus, während immer neue Studien und Whistleblower belegen, dass das weltgrößte soziale Netzwerk den demokratischen Diskurs vergiftet. Zuletzt berichtete die ehemalige Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen dem US-Kongress, wie Wut, Irrsinn und Hass den Umsatz treiben. „Mehr Trennendes, mehr Schaden, mehr Lügen, mehr Drohungen, mehr Kampf“, so erklärte Haugen den Abgeordneten das Erlösmodell. Zugleich wird bei Facebook getrickst und geflunkert, wie bei Big Oil, Big Tobacco oder Big Pharma zu schlechtesten Zeiten.

Der Giftstrom aus dem Silicon Valley alarmiert sogar Deutschlands wichtigsten Philosophen. 59 Jahre nach seinem Standardwerk „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ legt Jürgen Habermas (92) einen Aufsatz zum „erneuten Strukturwandel“ vor, eine Erweiterung seines Klassikers, der die unheilvolle Macht der sozialen Medien beleuchtet. Idealerweise, so Habermas, sei die medial vermittelte Öffentlichkeit eine Vernunftsmaschine der Demokratie, die Themen aufbereite, ordne und der Politik gleichsam als Aufgabenliste präsentiere. Dummerweise aber seien Verlage und Sender längst zu Machtinstrumenten geworden.

Habermas: Klassische Medien müssen die Demokratie retten

Ausgerechnet diese klassischen Medien, findet Habermas plötzlich, müssten die Demokratie retten, weil ihre Kontrollmechanismen und Schleusen den Unsinn filtern. Soziale Medien wie Facebook dagegen prüfen und löschen allenfalls notdürftig. Kein Wunder: Negative Emotionen verbreiten sich weitaus schneller und weiter; Polarisierendes, Empörendes, Horror ist demnach gut für den Aktienkurs. Facebook habe die einstige Hoffnung nicht eingelöst, die Öffentlichkeit zu demokratisieren, weil jeder und jede mitreden kann. „Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüsten Geräuschen in fragmentierten Echoräumen übertönt“, so der Philosoph. Habermas bemängelt, dass Social Media die Trennung zwischen privat und öffentlich verschwimmen lasse und sich eine gefährliche „anonyme Intimität“ breitmache, in der Unsinn gleichberechtigt neben Klugem, Hass neben Erklärendem, Meinung neben Fakten stehen.

„Habermas hält das Experiment Social Media für gescheitert“, erklärt der Hamburger Medienwissenschaftler Stephan Weichert. Facebook und die anderen sind vielmehr zum Stresstest für die Demokratie geworden, wie die entgleiste Debattenkultur in den USA nahelegt. Dort ist Unversöhnlichkeit der kleinste gemeinsame Nenner. Bleibt die Frage: Wie viel Wut, Hass, Lügen hält eine Gesellschaft aus, wenn jeder jeden niederbrüllt? Und: Kann, will eine Demokratie einen verantwortungsvollen Umgang mit den Plattformen überhaupt lernen? Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen träumt von einer „redaktionellen Gesellschaft“, in der Menschen die Regeln des guten Journalismus von klein auf lernen und anwenden: hören, prüfen, wägen, Fakten und Meinungen trennen, angemessen präsentieren.

Facebook-Chef Zuckerberg baut seinen Konzern derweil so zügig um, als wolle er kleinlichen demokratischen Bedenken ebenso enteilen wie einer Zerschlagung. „Der Zeitpunkt, Facebook zu regulieren, ist verpasst worden“, schreibt der Netz-Journalist Richard Gutjahr, der jahrelang von einem digitalen Mob heimgesucht wurde. Zuckerbergs Vorbild, so Gutjahr, sei nicht länger Bill Gates, „sondern Gott“.

Konsequenterweise baut Zuckerberg an einer schönen, neuen Welt, einem digitalen Paralleluniversum namens „Metaverse“. Die Kundschaft starrt nicht länger auf Bildschirme, sondern taucht mithilfe von Brillen und Sensoren komplett in eine bunte Welt, um zu spielen und zu shoppen. Natürlich wird im Metaverse auch gewählt, allerdings nur noch zwischen Produkten und Unterhaltungsangeboten.