Hamburg. Der stellvertretender Abendblatt-Chefredakteur über die aktuelle Haltung Deutschlands zum Ukraine-Krieg und mögliche Waffenlieferungen.
Vielleicht geht es Ihnen wie mir – ich kann den rasanten Zeitenwenden, abrupten 180-Grad-Drehungen und krassen Kurswechseln kaum noch folgen. Mir ist ein wenig schwindelig. Und ich gestehe: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Vielen anderen geht es vermutlich ähnlich, was sie aber nicht daran hindert, uns die Welt trotzdem jeden Tag aufs Neue zu erklären Auch in meinen Berufsstand soll das gelegentlich vorkommen.
Bis zum 24. Februar hielten wir alle einen Krieg in Europa für unmöglich, nun hören wir plötzlich ganz neue Losungen. Wenn heute irgendwo ein Russe als Forscher, Musiker oder Filmemacher auftritt, steht er schnell am Pranger. Völkerverständigung ist etwas von vorgestern, heute betreiben wir Sippenhaft. Die, die einstmals voller Inbrunst den Wehrdienst verweigerten, können heute nicht leichtfertig genug schwere Waffen in Kriegsgebiete liefern. Jene, die schon jedes schwarz-rot-goldene Fähnchen für einen gefährlichen Rückfall in dunkle Zeiten hielten, können nicht schnell genug ihre blau-gelbe Fahne in den Wind hängen. Und solche, die bis vor Kurzem im Klimawandel den Untergang der Menschheit sahen, finden jede Angst vor einem Atomkrieg übertrieben.
Nicht von Emotionen mitreißen lassen
Für all diese Positionswechsel gibt es gute Gründe und starke Argumente – und doch ist es wichtig, dass man kurz beiseitetritt, wenn die Massen plötzlich in eine andere Richtung stürmen. Bei aller berechtigten Empörung über Putins Angriffskrieg, bei aller Wut über diesen Rückfall in finstere Zeiten, bei aller Trauer über die Tausenden von Toten, wir sollen und dürfen uns nicht von unseren Emotionen mitreißen lassen. Besonnenheit ist keine Feigheit, Zögern kein Zaudern, zu warten kein Trödeln. Wer aus der Eskalationsspirale hinauswill, muss innehalten.
Leider dominiert hierzulande eine Radikalität, die schon diese These ungebührlich, ja ungeheuerlich findet. Die Stimmung erinnert an den Satz von Papst Hadrian VI.: „Fiat iustitia et pereat mundus!“ Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die als Verteidigungsministerin die Bundeswehr wahrhaft grandios mit Kasernenkitas und dem Abhängen von Helmut-Schmidt-Fotos auf die Zeitenwende vorbereitet hatte, erinnert heute ein wenig an Hadrian. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholt sie den Satz, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss. Wie ein Sieg auf dem Schlachtfeld gegen eine Atommacht aussehen soll, verrät sie nicht. Wie weit dieser Sieg gehen wird, auch nicht – reicht die Befreiung der besetzten Gebiete im Osten oder darf es ein bisschen mehr sein, etwa die Rückeroberung der Krim? Wohin führen ständig neue Waffenlieferungen? Hoffentlich zu einem Ende des Krieges, wahrscheinlicher aber zu seiner Verlängerung.
Verantwortungsethik befindet sich auf dem Rückzug
Bundeskanzler Olaf Scholz, der stets betont, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf, muss sich hingegen für diesen Satz entschuldigen. Es schlägt die Stunde der Gesinnungsethiker, die Verantwortungsethik befindet sich auf dem Rückzug. Man klopft sich stolz auf die Schulter, weil die EU ein Ölembargo gegen Russland verhängt hat: Das klingt gut, tut dem Kriegstreiber Putin aber nicht weh: Er kann sein Öl recht problemlos in Indien oder China verkaufen und den dafür nötigen Preisabschlag von rund einem Drittel verkraften – denn seit Weihnachten ist der Ölpreis um 56 Prozent gestiegen. Es ist die perverse Logik des Krieges: Er finanziert sich quasi von selbst. Die Kosten werden den Europäern noch richtig wehtun. Wenn die dramatischen Preissteigerungen soziale Verwerfungen auslösen, werden auch wir einen verdammt hohen Preis bezahlen. Es ist nicht unmoralisch, die eigenen Interessen im Blick zu halten – es ist sogar die Aufgabe, die der Amtseid jedem Kanzler auferlegt.
Es ist höchste Zeit, den seit 100 Tagen tobenden Krieg zu beenden. Er bringt nicht nur Unheil über die Ukraine, sondern auch über Russland und über Europa. Es gilt, diesen Konflikt von seinem Ende her zu denken. Auch wenn wir uns alle einen Regimewechsel in Moskau wünschen mögen, liegt dieser wahrscheinlich außerhalb unserer Möglichkeiten. Und wir sollten nicht vergessen, was dieses hehre Ziel im Irak oder in Libyen an Verheerungen ausgelöst hat. Immer mehr Waffen werden keinen Frieden schaffen. Das vermag nur die Diplomatie. So viel zumindest meine ich noch zu verstehen.