Cuxhaven. Ein neuer opulenter Band des britischen Sachbuchautors James Attlee befasst sich mit den Geheimnissen der Nordsee.
Hinter dem Deich muss sie sein, die Nordsee mit ihrem Versprechen von Freiheit und Ferienfreude. Mit dem Beginn der Sommerferien fahren Hunderttausende Deutsche wieder an die Westküste und auf die Inseln. „The beach is back“, schreibt der britische Sachbuchautor James Atlee in seinem Essay für ein neues, opulent illustriertes Buch mit dem Titel „Nordsee. Kultur, Geschichte, Bilder.“
Tatsächlich – der Strand ist zurück. In diesen Tagen nehmen die sonnenhungrigen Urlauber wieder Besitz von den Gestaden des Meeres. So war es immer schon: Zeitgenössische Fotos zeigen heitere Sommerszenen aus Cuxhaven, anno 1961. Auch damals entspannten sich Urlauber mit ihren Kindern in den typischen Strandkörben, die der in Bergedorf geborene Korbmacher Wilhelm Bartelmann 1882 erfunden hatte.
Meer als Metapher für das Leben selbst
Wie der geneigte Leser aus der Bildunterschrift erfährt, hatte ein Kunde, der unter Rheuma litt, den Korbmacher gebeten, einen Stuhl für den Strand zu konstruieren, der ihm Schutz vor Sonne und Wind bot. „Das Design war so erfolgreich, dass Bartelmann und seine Frau bereits ein Jahr später ihr Geld damit verdienten, solche Stühle an Touristen zu vermieten“, schreibt der Autor. Heute sind die Strandkörbe, die standardmäßig über ausziehbare Fußstützen, Klapptische und eine kleine Markise verfügen, von den Stränden an Nord- und Ostsee nicht wegzudenken und längst zum Kultobjekt geworden.
Doch das Meer lädt nicht nur zum (Sonnen-)Baden ein, sondern eröffnet zu jeder Jahreszeit neue Horizonte, es heilt, macht den Kopf frei, spricht alle Sinne an. Ein Foto aus dem Jahr 1904 zeigt – neben dem Gedicht „Am Strande“ von Rainer Maria Rilke – den Schriftsteller und Juristen Franz Adam Beyerlein (1871–1949) mit seiner Gattin. Beide stehen im Winter vor einer Mole auf der nordfriesischen Insel Sylt und blicken sehnsuchtsvoll auf die Nordsee gen Westen.
Meer berührt Körper und Seele
Der Betrachter des Bildes spürt: Das Meer berührt Körper und Seele. In der ewigen Monotonie von Ebbe und Flut, von Stille und Sturm, ist es eine Metapher für das Leben selbst. Ständig ändert sich alles im Spiel von Wind, Wellen und Wolken und im Glanz von Sonne und Mond. Zwar gleicht kein Augenblick dem anderen. Aber eigentlich ändert sich gar nichts seit Millionen von Jahren. „So war es immer schon“, dichtete Theodor Storm (1817–1888), der Schriftsteller aus Husum, in seinem Werk „Meeresstrand“.
Gedichte über das Meer gehören ebenso zum Konzept dieser gelungenen Publikation wie die Erfahrungen des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann mit Transatlantik-Linern. Als er von der Nordsee kommend mit dem Schiff in die Neue Welt reiste, schrieb er: „Es hat tagelang etwas Unglaubwürdiges, eine unter einem wogende, zerweicht sich hebende und wegsinkende Treppe hinunterzugehen.“
So dokumentiert das Buch auch die dunkle, alles verschlingende Seite der Nordsee, die zwar den Fischern Arbeit und Brot gibt, aber mit ihren verheerenden Fluten ganze Landstriche unter Wasser setzen kann. Historische Fotos dokumentieren, was die Nordseestürme mit einer Spitzengeschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde im Februar 1962 angerichtet hatten. 315 Menschen kamen allein in Hamburg ums Leben, 60.000 verloren in Norddeutschland ihr Zuhause, schreiben die Autoren.
Auch der Krieg wird thematisiert
Passend dazu eine Szene aus Theodor Storms „Schimmelreiter“: „,Der Wind ist umgesprungen!‘“, rief er – ,nach Nordwest, auf halbe Springflut! Kein Wind; - wir haben einen solchen Sturm noch nicht erlebt!‘“
Die meisten Fotos aus dem Bildband dokumentieren freilich die Kulturgeschichte der Nordsee jenseits des deutschen Horizonts, und zwar in Großbritannien, Holland, Belgien und Skandinavien. Es sind auch düstere, gar nicht romantische Gemälde vom Alltag der Fischer dabei, Fotografien von Fischtrawlern , die sich durch die tobende See kämpfen.
Bedrückende Bilder zeigen mitten im Sommer 1940 eine Frau und eine Gruppe von Kindern am belgischen Strand. Vor der tiefblauen Nordsee und strahlendem Himmel ragt eine Kanone der Wehrmacht empor, während Stacheldraht den Zugang zum Meer versperrt. Autor James Attlee schreibt: „Um sie herum sehen wir Überreste des Krieges: ein in den Himmel gedrehtes, zugelassenes Geschütz, Munitionskisten und Granathülsen im Sand.“
Zum Glück hätten nun aber – seit mehr als zwei Generationen – keine Soldatenstiefel mehr ihre Abdrücke an einem Nordseestrand hinterlassen, fügt der Essayist hinzu.