Wacken. Schon zum 30. Mal. Was das Festival einzigartig macht, wie es sich verändert und wie man für vier Tage eine ganze Stadt aufbaut.
Zu einer ordentlichen Baustelle gehören in die Hüften gestemmte Fäuste und ein anerkennendes Nicken: so, geschafft. Stolz blicken mehrere behelmte Arbeiter auf den mehrere Meter hohen stählernen Kuhschädel, der mit einem Kran zwischen zwei gigantische Open-Air-Bühnen eingehängt wurde: das Logo des Wacken Open Airs. Unter der „Ziege“, wie die Organisatoren das Motiv so scherzhaft wie zärtlich nennen, prangt „xXx“. Zum 30. Mal wird das beschauliche 1800-Einwohner-Dorf 2019 zu einem der größten Heavy-Metal-Festivals der Welt. „xXx“ steht für die römische Zahl 30, bedeutet aber auch „nur für Erwachsene“ und „hochprozentiger Alkohol“. Passt.
„Jetzt kann ich das erste Mal ein wenig durchatmen“, sagt Hanna Hiersig und lässt sich auf einen Stapel Bühnenbretter sacken. Es ist Montag, drei Tage vor dem offiziellen Festivalstart. Die ersten von 75.000 Metalfans aus aller Welt fahren bereits auf die Campingplätze und beginnen ihrerseits mit dem Aufbau von Zelten und Wohnwagenburgen. Hanna Hiersig hingegen ist bereits seit vier Wochen auf dem „Holy Ground“, auf dem mehr oder weniger heiligen Boden von Wacken. Seit sieben Jahren gehört die 40 Jahre alte Hamburgerin zum Team des Wacken-Veranstalters ICS, und dieses Jahr ist sie als Projektleiterin zum ersten Mal verantwortlich für den reibungslosen Auf- und Rückbau einer 300 Hektar großen Musik-Erlebniswelt.
Wo sonst nur Wiesen grünen, begann Anfang Juli das Anlegen und Absperren der Bau- und Verkehrswege mit 48 Kilometern Bauzaun, Versorgungsleitungen und Containern sowie der Unterkünfte der 70 Aufbauhelfer und weiteren Mitarbeiter – 5000 sind es letztendlich. Die heiße Phase begann eine Woche vor Festivalstart mit dem Errichten der drei großen Hauptbühnen, sechs kleinen Bühnen und Zelte sowie der weiteren Themengelände wie „Wackinger Village“ (eine Art Mittelaltermarkt), Biergärten, Sponsorenbereiche, Bier- und Essensstände, Fanartikel-Buden, Supermarkt, Sanitärbereiche und einem kompletten mobilen Krankenhaus. Kein Sanizelt, ein Krankenhaus! Manchmal erfordert die Logistik kein Kleckern, sondern Klotzen.
Ballett aus Gabelstaplern, Geländewagen und Lastern
Indirekt dirigiert Hiersig ein Ballett aus 75 Gabelstaplern, 70 Geländewagen und Lastern, 80 Quads und Motorrollern sowie 60 Fahrrädern. Und das ist nur der Veranstalter-Fuhrpark. Zwar wird eine Menge Material von der „Wacken Open Air“-Zaunfahne bis zur „Ziege“ zwischen den Festivals eingelagert, der Großteil der Bühnen, Ton- und Lichttechnik wird allerdings angemietet. Allein die 1000 Tonnen Bühnenmaterial brauchen zum Antransport 75 Sattelzüge, und da hängt noch kein Scheinwerfer, kein Verstärker, kein Bildschirm an den Traversen. Und so bestimmen in den Wochen vor Festivalbeginn nicht Hardrock und Heavy Metal, nicht Slayer, Sabaton, Powerwolf und 190 weitere Bands den Sound auf dem „Holy Ground“, sondern das Piepen der Rückwärtsgang-Warntöne der schweren Zugmaschinen und das herzliche, aber bestimmte Warmbrüllen der Ordner („Halt! Nicht da lang!“).
Für Hiersig ist das Musik in den Ohren. Bei jeder eingedrehten Schraube, bei jeder eingehängten Planke, bei jeder einzelnen von 850 aufgestellten Mobiltoiletten fällt ihr ein weiterer Stein vom Herzen. Bis die erste Band spielt, aber da beginnen schon längst die Planungen für das nächste Jahr und der eine Woche dauernde komplette Rückbau des Geländes. Ein stahlhartes Programm. „Dabei mache ich mir nichts aus Heavy Metal“, gibt Hiersig zu. „Aber vielleicht ist es gerade hier ein Vorteil, sich nicht von der Musik ablenken zu lassen.“
Genau genommen ist das Wacken Open Air seit 30 Jahren im Bau und immer noch nicht fertig ist. 1989 kamen die Wackener Freunde Thomas Jensen und Holger Hübner bei einem Kaltgetränk auf die Idee, mit Jensens Band Skyline ein Open-Air-Konzert in der Kiesgrube von Wacken aufzuziehen. Der Ort hatte sich bereits als Treffpunkt eines Motorradclubs bewährt, und mit weiteren Mitstreitern stellte man am 24. und 25. August 1990 das erste Wacken Open Air auf die wackeligen Beine eines aus heutiger Sicht winzig kleinen, immerhin überdachten Bühnenverschlags.
Die örtliche Spedition stellte einen Anhänger für Verstärkeranlage, Licht- und Mischpult, die sechs Bands Skyline, Wizzard, 5th Avenue, Motoslug, Axe ’n Sex und Sacret Season spielten, so laut sie konnten, und wohlwollend geschätzte 800 Rockfans hatten ihren Spaß. Die „Ziege“, der Wacken-Kuhschädel, schmückte sogar schon damals die T-Shirts des vielleicht ein Dutzend Leute umfassenden Aufbauteams.
Eigentlich hätte spätestens 1996 das schnelle Ende des Wacken Open Airs kommen müssen. Livemusik im Allgemeinen und Hardrock und Heavy Metal im Besonderen hatten einen schweren Stand in den 90er-Jahren, die Festivallandschaft war entsprechend übersichtlich. Zu den mittlerweile populären Eisensausen wie Wacken, With Full Force, Summer Breeze oder Bang Your Head kamen in ihren Anfangstagen in den 90ern keine 2000 Besucher. Finanzielle Engpässe, Ortsverlegungen und Absagen sowie Konflikte in den Veranstalterteams waren nicht ungewöhnlich. „Metal ist tot“, das sagten seinerzeit sogar Szene-Ikonen wie Lars Ulrich (Metallica), Rob Halford (Judas Priest) oder Bruce Dickinson (Iron Maiden). In Wacken glaubte man noch an Metal, an Kreator, Doro, Tiamat und Gorefest, an die alten Hardrock-Helden und Szenetrends von Death- bis Black Metal – und verlor eine Menge Geld damit.
So war das „W:O:A“ 1996 bereit für die letzte Ölung mit Bier, als es gelang, die Böhsen Onkelz zu buchen. Damals wie heute waren sie eine der angesagtesten deutschen Hardrock-Bands, aber durch ihre Vergangenheit in den frühen 80er-Jahren im rechten Skinhead-Milieu, überliefert durch Liedmachwerke wie „Türken raus“, trotz aller späteren Distanzierungen auch extrem umstritten. Es gab eine Menge Krach und Trennungen zwischen und innerhalb der Veranstalter, der Bands und der Fans. Aber am Ende des Tages kamen 8000 zahlende Gäste, und mit den Onkelz wurde Wacken saniert und professionalisiert – Onkelz-Tourmanager Thomas Hess übernahm bis zu seinem Tod 2018 die Produktionsleitung. Manchmal braucht auch die beste Logistik einen Schubs in die richtige Richtung.
Jahr für Jahr wurde Wacken von 1996 an größer, härter, schneller, lauter. 1998 kamen bereits 20.000 Fans, 2003 schon 30.000, 2007 sogar 72.000, seitdem ist das Festival regelmäßig ausverkauft. Das „Hammerfall-Wunder“, ein 1997 einsetzendes Revival von klassischem Heavy Metal, neue Promotions- und Vermarktungswege im Internet und in sozialen Netzwerken, die gestiegene Bedeutung von Livemusik und der Erlebnishunger des Publikums waren das Öl im Feuer, dass die „Ziege“ spucken kann. Nicht zu vergessen Cho Sung-hyungs Dokumentarfilm „Full Metal Village“, der Wacken 2006 auch im Mainstream bekannt machte.
Zahl der Konkurrenz-Festivals ist enorm gewachsen
Leitmedien wie „Süddeutsche Zeitung“, „Zeit“ und „Spiegel“ sowie die TV-Stationen von Arte bis zum Boulevard schickten plötzlich ihre Korrespondenten auf die Wiese bei Itzehoe für Frontreportagen vom Campingplatz, die leider nicht selten ein Bild kultivierten, das Metalfans auf „Busen, Bier, Heavy Metal“ („Bild“, 2010) reduzierte. Auf komasaufende, musikalisch gestrige Stiernacken und Kantholzgesichter, die zwischen Pinkelzaun und Discounter-Steakgrill taumelten und bis auf „Wacköööön“ oder mit Glück noch „Slaaaaayer!“ kein Wort mehr geradeaus sprechen konnten. Von der sprichwörtlichen freundlichen Geselligkeit, der absoluten Hingabe an die Musik, ihrer Kultur und ihrem Lifestyle, der bei allem Durst viel mehr ist als Dosenpils und Dosenfraß, war nicht immer viel zu lesen. Manchmal muss auch die beste Logistik gegen Ignoranz ankämpfen.
Nicht nur dieser Umstand bescherte dem Wacken Open Air innerhalb der Szene den Ruf als nicht mehr ernst zu nehmendes „Metal-Mallorca“. Marketinggags wie die Auftritte von Heino oder Otto Waalkes, die Bedruckung von allen möglichen und unmöglichen Fanartikeln und Gebrauchsgegenständen mit der „Ziege“, das immer weiter ausgebaute Rahmenprogramm vom „Wackinger Village“ bis zum „Metal Heart“-Flirtzelt, dem 2019 erstmals aufgebauten Metal-Supermarkt, dem Areal der Bundeswehr, die Werbung für sich macht, und steigende Kartenpreise von zwölf D-Mark (1990) bis 220 Euro (seit 2017) sind für nicht wenige Freunde des harten Klangs kein Heavy Metal mehr, sondern Wahnsinn.
Aber auch das Wacken Open Air muss mit der Zeit gehen, auch wenn einige Punkte unabänderlich sind. „Wir werden auch weiterhin nicht mehr als 75.000 Karten verkaufen“, sagt Hanna Hiersig, das Festival soll – hüstel – überschaubar bleiben. Und es ist auch nicht mehr so einfach, diese 75.000 Tickets in zwölf Stunden auszuverkaufen wie noch 2015. Die Konkurrenz ist in Sachen Hard ’n’ Heavy groß in Europa, zum Graspop Metal Meeting in Dessel (Belgien) kommen 200.000 Fans, zum Download Festival in Donington (Großbritannien) 120.000, zum Hellfest in Clisson (Frankreich) 110.000 Fans. Das viel zitierte „größte Metalfestival der Welt“ ist Wacken jedenfalls nicht mehr. Dazu kommen vom Baltikum bis nach Spanien weitere harte Open-Air-Feiern, auch in Deutschland wartet ein Dutzend Angebote wie Rock Hard Festival, Headbangers Open Air, Rockharz oder Party.San auf deutsche und internationale Kundschaft mit Hang zu T-Shirts mit unleserlichen Bandlogos. Alle wollen ein Stück vom Kuchen, die tollsten Fans, die besten Bands.
Wacken hat zwar auch 2019 wieder gut 190 Bands am Start, trotzdem ist im Metal das Angebot zugkräftiger Namen wie Iron Maiden, Judas Priest oder Avenged Sevenfold rar oder im Fall der absurden Gagen von Titanen wie Metallica oder AC/DC schlicht nicht bezahlbar. Alte Helden wie Ronnie James Dio oder Motörheads Lemmy Kilmister sind gestorben, Ikonen wie die 70er-Hardrock-Pioniere UFO oder die 80er-Thrash-Legende Slayer besuchen Wacken im Rahmen ihrer Abschiedstourneen. In diese Dimensionen steigen nur wenige Nachzügler auf, Volbeat oder Ghost zum Beispiel.
„Wir müssen immer neue Anreize schaffen, damit Wacken attraktiv bleibt“, sagt Hanna Hiersig, dazu kommt auch eine Mischung aus Neugier und Experimentierfreude. Tatsächlich lassen sich in den vergangenen zehn Jahren auf Festivals drei Trends ausmachen: mehr Komfort, mehr Rahmenprogramm, mehr Nachhaltigkeit. „Der Altersschnitt im Publikum steigt“, sagt Hiersig und damit auch die Ansprüche vieler Altmetaller. Ein Iglu-Zelt, eine Kiste Bier, Texas-Bohneneintopf und eine Handvoll Bands waren 1998 der Höhepunkt des Jahres für einen Wacken-Besucher. Aber jetzt, mit über 40, möchte er seinen jahrelang beim Headbangen ausgeleierten Nacken und das schütter gewordene Haar doch lieber sanft in einer festen Unterkunft betten.
Neben Wurst und Pommes gibt es heute auch Veganes
Dafür gibt es in der Nähe des Bühnengeländes das Moshtel, ein Container-Hotel, sowie mietbare Hütten, Wohnwagen und Zelte mit bestellbaren Extras vom Kühlschrank bis zum Dosenöffner. Das ist zwar nicht so komfortabel und mondän wie die vom Wacken-Veranstalter ebenfalls organisierten Metal-Kreuzfahrten und -Pauschalreisen (nach Mallorca!), aber immerhin. Und wo einst der kleine Hunger bereits mit Bratwurst und Pommes gestillt war, gelüsten es Herrn und Frau Metalfan heutzutage nach Hirschgulasch, Scampi in Hummersahnesauce, veganen Hot-Dogs, schwäbischem Bauernbrot oder Spanferkel im Brötchen. Sie mögen es ebenso bekommen wie ausreichend Zerstreuung zwischen den Bands. Manchmal braucht auch die beste Logistik einen zweiten Schubs in die richtige Richtung.
Auf der „Welcome To The Jungle“-Bühne stehen Lesungen und Poetry-Slams an. Mittelalterliche Schaukämpfe, Feuerzaubershows und Käfigkämpfe liefern Spiele zum Handbrot. Herumstreunende Gaukler, Artisten und Spielleute mischen sich unter die schwarze Meute. Karaoke- und Late-Night-Shows sorgen für Unterhaltung, Metal-Spielfilme und -Dokumentationen laufen auf dem „Moviefield“. Neu ist das „Gaming Village“, ein Daddelareal für Computer- und Videospiele wie „Dota 2“ und „World Of Tanks“ – das Klischee vom Zockernerd im Metalshirt brauchte überraschend lange, um in Wacken lebendig zu werden. Aber Ideen wie diese sind tatsächlich alltäglich in der Open-Air-Landschaft, auch bei den Mainstream-Festivals wie Rock am Ring oder Hurricane. Mehr Drumherum, mehr Nebenbei, schöner, höher, bunter.
Und grüner. Nachhaltigkeit und Klimaschutz rücken auch auf Festivals immer mehr in den Vordergrund. Das Wacken Open Air braucht die Stromleistung einer Kreisstadt mit 70.000 Einwohnern, von der Umweltbilanz des An- und Abtransports des Materials ganz zu schweigen. Und Müll. Knapp 600 Tonnen Abfall werden wieder anfallen, und traditionell sieht es auf dem Campingplatz noch vor der Abreise, wenn Berge von Dosen, Zelten, Pavillons oder ganze Wohnwagen einfach zurückgelassen werden, aus wie auf einem Schlachtfeld. „Es ist zwar besser geworden in den vergangenen Jahren, trotzdem ist da noch eine Menge zu tun, um die Fans zu sensibilisieren“, schaut Hanna Hiersig zurück. Um nach vorne zu schauen, wartet das Festival mit der „Wacken Future Factory“ auf, einem Forum für Besucher, Musiker und Experten, in dem Ideen zu Nachhaltigkeit, aber auch Inklusion, Diversität und gesellschaftlichen Werten diskutiert und in den nächsten Jahren auch umgesetzt werden sollen. Das Aufbauteam hatte also genug zu tun dieses Jahr. Sozusagen im Vorbeigehen hat es auch noch als neue Bühne die „History Stage“ aufgestellt – aus Originalteilen der ersten Bühne aus dem Jahr 1990, der ideale Auftrittsort für Newcomerbands und Geheimtipps, die vielleicht in 30 Jahren groß genug sind für eine der Hauptbühnen.
Wacken Open Air 2019 – Die besten Bilder:
Und wie im Großen braucht es auch im Kleinen eine Menge Organisation, bis es dann endlich, tatsächlich losgeht – vielleicht keine vier Wochen, aber doch mindestens vier Tage. Oder vielleicht doch ein ganzes Jahr? Der Run auf die 75.000 Tickets ist zwar wie oben angeführt nicht mehr so wahnsinnig wie vor ein paar Jahren, als die Ausgabe des folgenden Jahres schon ausverkauft war, noch bevor alle wieder zu Hause waren. Trotzdem sichern sich viele ihre Wacken-Karte direkt. Die Last-minute-Kandidaten hingegen treten auf der Dorfstraße in Verhandlungen mit den Menschen, die sich irgendwie verkalkuliert haben und nun überzählige Karten anbieten.
Kühlschrank und Sofa im Zelt: Viele ziehen regelrecht um
Zwar ist auch das 30. Wacken-Festival pflichtgemäß ausverkauft, aber wer kurz vor knapp noch nach einer Karte sucht, wird schon fündig werden zwischen den von findigen Dorfbewohnern in Vorgärten errichteten Bars und Grills, im sich durch Wacken windenden Lindwurm aus schwarzen Shirts mit unleserlichen Band-Logos, langen Haaren und guter Laune: „Freu dich, du bist in Wacken“, wie es auf Schildern am Wegesrand heißt. Wie viel Erfolg die Familie hat, die neben Kaltgetränken auch noch ein Motorrad, einen Pkw und einen Satz Winterreifen anbietet, ist nicht geklärt. Aber das Angebot ist zumindest eine Erwähnung wert. Manchmal geht die Logistik seltsame Wege – gerade wenn sie sich mit zweckorientiertem Optimismus paart.
Davon kann jeder ein Lied grölen, der schon einmal für Wacken gepackt hat: Die Minimalvariante aus einem (kleinen) Rucksack mit ein paar Wechselklamotten, einem mittelmäßig warmen Schlafsack plus Isomatte und einem mittelmäßig dicht haltenden Zelt vom Discounter, sie ist definitiv passé, schaut man sich auf dem Campground um. Stattdessen werden Pavillons, Bierbänke oder gleich ganze Sofas, Kühlschränke, Zapfanlagen und diverse weitere Annehmlichkeiten der Zivilisation aus dunklen Ecken des Zuhauses gezerrt und in Pkw, Transporter, Anhänger oder Lkw gestopft. Eine Anlage, die denen der neun Bühnen Konkurrenz macht, ist natürlich ebenfalls Pflicht für viele – ob am Ende nun Metallica, Machine Head und AC/DC herausschallen oder Helene Fischer, Culture Beat und Freiwild, ist erst mal egal. Hauptsache, laut.
Das Ausmaß, das ein langjährig wiederholtes Wacken-Camp annehmen kann, ist mit dem eines Umzugs von der alten in die neue Vier-Zimmer-Wohnung durchaus zu vergleichen. Ein zwar gewichts- und volumenmäßig vernachlässigbarer, aber psychologisch ungleich wichtigerer Faktor ist da noch gar nicht erfasst: Welche T-Shirts bleiben zu Hause, welche müssen mit? Schließlich ist Wacken vielleicht nicht mehr das weltweit größte, aber sicher das bekannteste Festival der harten und härtesten Musik. Damit ist man auch dazu verpflichtet, das gute Zeug herauszuholen: Die Bands, die man am höchsten schätzt, die Tour- und Festival-Shirts, die am besten bezeugen, dass man auch schon vor 30 Jahren mittendrin war und nicht nur dabei.
Zusammengenommen kann die Menge an Gepäck schnell handelsübliche Ausmaße sprengen – zumal ja auch Essen und Getränke eingepackt werden wollen. Manchmal geht die Logistik nur schwer zu entwirrende Umwege.
Hat man dann tatsächlich alles irgendwann und irgendwie verstaut, will auch noch die Anreise geplant werden. Denn wer auf dem Campinggelände ankommt, begibt sich damit in die Obhut der „Traffic Controller“ in gelben Westen, die mit steigender Entfernung zum Schichtbeginn zunehmend ruppiger die Ankommenden durch die Gegend dirigieren, damit jeder einen Platz findet - und niemand mehrere Hundert Quadratmeter pro Person in Anspruch nimmt. Also tut Koordination not: Auf den Autobahnparkplätzen rund um Wacken treffen Vor- und Nachhut aufeinander und zockeln die letzten Kilometer im Konvoi, um gemeinsam und in die gleiche Richtung eingewinkt zu werden.
Vor anderen und im Wortsinn schwerwiegenderen Problemen stehen diejenigen, die ohne Auto nach Wacken kommen. Zwar gibt es einen Shuttlebus vom Itzehoer Bahnhof bis ins Dorf, ein nicht unerheblicher Fußweg ist dann aber trotzdem Pflicht. Und wie die an der Dorfstraße zu findende Karte der Wanderwege in und um Wacken vermerkt, gibt es gleich zwei für norddeutsche Verhältnisse bedenklich hohe „Berge“: den Twisselberg (46 Meter) und den Reselithberg (63 Meter). Nicht zu unterschätzen, wenn man sein gesamtes Geraffel auf Rücken, Armen und Kopf durch die Gegend trägt. Aber zum Glück ist da ja die entlang der Einfallstraßen wartende Dorfjugend: Die bessert sich ihr Taschengeld dadurch auf, dass sie Gepäck mit Gokarts und Anhängern durch die Gegend transportiert. Manchmal geht die Logistik lukrative Wege.
Der Hauptanreisetag ist über die Jahre langsam, aber stetig nach vorn gerückt, inzwischen öffnen die Zeltplätze bereits am Montag. Das merkt man auch bei der Firma Wonsak an der Kieler Straße. Dort wird ein begehrtes Gut hergestellt, das jeder Camper zu schätzen weiß: Trockeneis. Jedes Jahr baut die Firma extra für Wacken einen kleinen Stand auf dem Hinterhof auf, an dem reger Betrieb herrscht. Blöcke und Pellets aus tiefgefrorenem Kohlendioxid werden in Styroporkisten geschaufelt, dazu die Ermahnung: „Nicht mit nackten Fingern anfassen!“ Die leere Haribo-Dose für Trinkgeld ist am Dienstagnachmittag ordentlich gefüllt, die Sonne scheint, die beiden jungen Männer machen gute Geschäfte mit den Metalheads. Drei Tonnen haben sie bereits am Montag verkauft, ähnlich viel wird es auch am Dienstag und Mittwoch sein – wohlgemerkt, offizieller Beginn des Festivals ist am Donnerstag, das Programm auf den kleineren Bühnen startet am Mittwoch. Gefühlt sind mindestens 90 Prozent der Wacken-Gäste zu dieser Zeit schon anwesend. Manchmal geht die Logistik Wege, die alle auf einmal benutzen wollen.
Wobei auch Metaller ein bisschen spießig sind
Kein Wunder, denn mit der gemeinsamen Anreise ist es noch nicht getan. Auf dem Zeltplatz angekommen, warten auf die Metalheads die nächsten Herausforderungen: Wie weit kann man die Anweisungen der Traffic Controller ignorieren, um nicht direkt neben den Dixie-Klos zu stehen? Es gilt ganz allgemein, den optimalen Kompromiss zwischen Nähe und Entfernung zu finden, denn die Wege sind ohnehin lang auf dem riesigen Gelände. Außerdem muss man den einmal eroberten Platz gegen die Nachbarn verteidigen. Wo gerade noch ein freier Fleck war, schießen sonst plötzlich Wurfzelte wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden, kaum dass man einmal nicht hingesehen hat. Also formiert man Zelte, Autos und etwaige Anhänger zu einer Wagenburg. Ja, auch Metaller sind ein bisschen spießig.
Außerdem muss man sich daran erinnern, wie der verdammte Pavillon, den man zum letzten Mal vor einem Jahr zusammengesteckt hat, funktioniert. Nach dem kurzen, aber heftigen Schauer am frühen Mittwochmorgen zeugen wieder zusammengebrochene oder arg windschiefe Exemplare von maximal mittelgroßem Erfolg. Dafür hilft der Niederschlag den überraschend häufigen stolzen Poolbesitzern, die nun statt 1000 nur noch 995 Liter Wasser für ihr übergroßes Planschbecken organisieren müssen – wenn sie es nicht zum Bällebad umfunktionieren und bis zum Rand mit Plastikkugeln füllen.
Strom muss auch irgendwo herkommen. Dafür setzen viele auf Dieselgeneratoren – neben Heavy Metal in allen nur denkbaren Variationen (oder eben „ironisch“ gemeintem anderem musikalischem Humbug) ist das Geratter von kleinen, mittleren und großen Aggregaten der Sound von Wacken. Man möchte jeden einzelnen Sonnenanbeter und seine Solarzellen umarmen und knutschen, selbst wenn er noch so schlechte Musik spielt. Denn der meteorologische Optimismus zeigt sich nicht nur in baren Füßen, (zu) kurzen Hosen und T-Shirts, sondern auch in der Menge der Solarpanels, die so ausgerichtet werden, dass sie möglichst viel Sonne einfangen. Manchmal gehört zur Logistik auch die Kenntnis der vier Himmelsrichtungen.
Der halb professionelle Erfahrungswert sagt übrigens: Mit 20 Kilogramm des gut 60 Grad minus kalten Trockeneises kommt man gut übers Festival und hat stets effektiv gekühlte Getränke – so effektiv, dass es hin und wieder zu Malheuren kommt: „Verdammt, die Flasche ist geplatzt!“ Wer nicht aufpasst, bekommt statt eines kalten Biers einen Haufen Scherben und Bier-Eis. Ein zugegebenermaßen kleiner logistischer Rückschlag, schließlich hat fast jeder Biermengen dabei, die ebenfalls eine Kleinstadt mit 70.000 Einwohnern versorgen könnten. Aber einer, der trotzdem schmerzt, wenn die Sonne brennt und der Durst gleichermaßen. Außerdem lässt sich das fertig aufgebaute Camp mit einem kühlen Getränk in der Hand viel besser bewundern: So, geschafft!
Wacken kann losgehen.