Hamburg.
Kevin Kühnert hat in dieser Woche den geballten Liebesentzug der Öffentlichkeit zu spüren bekommen. Der eloquente Juso-Vorsitzende und Hoffnungsträger der Sozialdemokratie a. D. möchte den Kapitalismus überwinden, BMW kollektivieren und findet Besitz von Immobilien in vielen Fällen illegitim. Die Strafe folgte auf dem Fuß: Die „FAZ“ empörte sich über „eine Farce“, die „Süddeutsche Zeitung“ findet Kevins Träume „schädlich“, und der „t-online“-Chefredakteur vergleicht Kühnert gleich mit Lenin. Die vernünftigste und lustigste Überschrift kommt von der „taz“: „Riesenskandal: Juso-Chef links“.
Das ordnet die Sache doch recht hübsch ein: Kevin Kühnert ist weder Bundeskanzler noch BDI-Chef, er ist Juso-Vorsitzender. Und bei den Jusos darf man nicht nur den Kapitalismus kritisch sehen, man sollte es auch. Wer soll es denn sonst tun? Man erinnere beispielsweise an einen gewissen Olaf Scholz. Der brachte es in den 80er-Jahren zwar nur bis zum Juso-Vize, hing aber ähnlichen Ideen an: Er hatte als Vertreter des Stamokap-Flügels und Marxist den „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ bekämpft – trotzdem setzte er später nicht nur die Agenda 2010 durch, sondern hievte mit seinem pragmatischen Politikansatz die SPD in Hamburg auf 45,6 beziehungsweise 48,4 Prozent. Vielleicht hatte Scholz das Glück der frühen Geburt – in den 80er-Jahren gab es noch keinen „Shitstorm“ gegen Abweichler, aber viel Toleranz: Die politische Debatte glich einem breiten Strom. In der CDU gab es Herz-Jesu-Sozialisten und Marktradikale, in der SPD „Marxisten“ wie den späteren Kanzler Gerhard Schröder und Bildungsbürger wie Klaus von Dohnanyi, bei den Grünen Linksradikale und Heimattümelnde.
Es ist schon drollig, dass in Zeiten, in denen Vielfalt und Diversity in jedem dritten Satz gefeiert werden, genau diese Vielfalt in der Politik geradezu verpönt ist. Heute werden Diskussionen sofort eingedämmt, das Denken wird kanalisiert. Und wehe jemand wagt, sich abseits des Mainstreams mit unbequemen Gedanken freizuschwimmen. Als Boris Palmer die Frage stellte, warum die alte Tante Deutsche Bahn nur Migranten in der Werbung zum Zuge kommen lässt („Welche Gesellschaft soll das abbilden?“), reagierten die grünen Parteifreunde empört. Katrin Göring-Eckardt schäumte über „rassistische Kommentare“, Claudia Roth maß Palmers Linientreue nach: „Ich glaube, er hat sich Lichtjahre von den Grünen und vielen ihrer Grundüberzeugungen entfernt.“ Die grüne Jugend trommelt schon lange für einen Parteiausschluss.
Die SPD wiederum schlägt sich seit Jahren mit dem Migrationskritiker Thilo Sarrazin und seinen grenzwertigen Thesen herum. Zu einem Ausschluss reichte es bislang nicht. Vermutlich ahnen auch die Sozialdemokraten, dass mehr Sarrazins die Partei vielleicht nicht sympathischer, aber wahrscheinlich erfolgreicher machen. Bei aller berechtigten Kritik, eine Volkspartei muss abweichende Meinungen aushalten und diskutieren. Erst dann lassen sich die eigenen Positionen überprüfen, schärfen und weiterentwickeln.
So ist es auch bei Kühnert: Man darf bezweifeln, ob ein VEB BMW am Markt erfolgreicher wäre – ausgerechnet der staatsnahe Konzern VW war es doch, der den Dieselbetrug verursacht und die Elektromobilität verschleppt hat. Und wie zielführend, nachhaltig und schön der sozialistische Wohnungsbau ist, lässt sich in den Trabantenstädten der Neuen Heimat oder den Plattenbausiedlungen im Osten recht gut besichtigen.
Aber diskutieren darf, ja muss man es. Das Thema treibt die Menschen um: Kühnert hat seine Sozialismusträume ja nicht exklusiv, sondern segelt mit dem Zeitgeist. Als sich Journalistenliebling Robert Habeck (Grüne) kürzlich ähnlich äußerte, blieb die Kritik verhalten. Auf Kühnert hingegen stürzen sich manche, als sei er der Gottseibeiuns und Beelzebub in einer Person. „Bild“-Kolumnist Franz Josef Wagner schimpft über die „Universitäts-Lusche“, und seine Website strengt ein virtuelles Parteiordnungsverfahren per Umfrage an: „Sollte die SPD ein Parteiausschlussverfahren gegen Juso-Chef Kevin Kühnert einleiten?“ Zwei Drittel sagen, na klar, Ja.
Was für ein Irrsinn: Parteien sollen unterscheidbar sein. Und Volksparteien dürfen nicht nur, sie müssen auch versuchen, die Ränder einzubinden. Wenn alle nur durch die Mitte laufen, werden auf dem Wege viele verloren gehen.