Bergedorf. Weit entfernt vom Klimaschutzplan – Bergedorfs Windkraft-Experten von der NET Gruppe fürchten erstmaligen Anlagenrückbau.

Die NET Gruppe errichtete 1991 in Ochsenwerder ihr erstes Windrad, hat seitdem rund 60 Windenergieanlagen (WEA) – davon etwa ein Drittel für andere Betreiber – realisiert und betreibt heute gut 20 Windräder mit denen etwa 30.000 Haushalte mit schadstofffreiem Strom versorgt werden können. Jens Heidorn und Klaus Soltau, die Geschäftsführer des Bergedorfer Unternehmens, würden gern weitere Windräder aufstellen. Doch ihnen werden – wie der gesamten Windenergie-Branche in Deutschland – immer mehr Hürden in den Weg gelegt. Heidorn spricht von „einer dramatischen Entwicklung“.

In Hamburg gebe es kaum noch neue Flächen für Windräder, zudem dürfen die Anlagen in der Hansestadt in der Regel maximal 150 Meter hoch sein. Damit hätten die Betreiber eine geringe Chance gegen leistungsfähigere Anlagen in anderen Bundesländern, deren Flügelspitze sich in bis zu 250 Metern Höhe befinden darf. „150 Meter sind nicht mehr zeitgemäß“, sagt der
57-jährige Diplom-Ingenieur.

Novellierung bringt Branche fast zum Erliegen

Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) fördert der Staat den Ausbau von Öko-Strom. Er ermöglicht den Windkraftanlagenbetreibern einen wirtschaftlichen Anlagenbetrieb durch einen Preis, der von allen Stromkunden getragen wird. Eine der vielen Novellierungen des EEG bringt die Branche allerdings fast zum Erliegen: Bekamen die Anlagenbetreiber bei Anlagengenehmigung bis 2016 noch Festpreise für den von ihnen erzeugten Strom, müssen sie sich nun als Bieter bei Ausschreibungen bewerben. Dadurch sind die Vergütungen deutlich gesunken. Viele kleine, regionale Betreiber können nicht mehr mithalten. Schuld seien laut Heidorn handwerkliche Fehler im Ausschreibungssystem.

Anlagen, für die bis 2016 eine Genehmigung vorlag und die bis Ende 2018 errichtet worden waren, fielen in eine Übergangsfrist. Für sie gelten noch Festpreise. „Alle haben damals Vollgas gegeben. Niemals gab es bundesweit so viele Genehmigungen wie 2016“, sagt Heidorn. Allein im Dezember 2016 wurden 5023 neue Windräder genehmigt – deutlich mehr als sonst in einem ganzen Jahr.

20 Prozent Windenergie

„Dabei war das EEG zuvor sehr erfolgreich“, sagt Heidorn, der sich über die Einführung des Bieterverfahrens wundert: „Etwa 40 Prozent des Stroms im deutschen Netz stammt mittlerweile aus erneuerbaren Energien, davon die Hälfte aus Wind.“

Für Windrad „Carl“ in Neuengamme ist die 20-jährige Vergütung nach dem EEG 2021 vorbei. Doch das neue Ausschreibungssystem gilt nur für moderne Anlagen, die sich seit frühestens 2017 drehen. Heidorn: „Die Vergütung ist noch schlechter als nach dem aktuellen EEG-Modell.“ Um den Börsenpreisen zu entgehen, die „dauerhaft nicht wirtschaftlich“ seien, richtet sich die NET Gruppe mit „Carl“ über den Marktplatz des Zwischenhändlers enyway bereits seit 2018 direkt an den Endkunden. „Wir sind früh gestartet, um bis Ende 2020 genug Kunden für dieses Vermarktungsmodell zu haben“, sagt Heidorn. „Wir sind fast ausverkauft.“

In einem Windpark in Schleswig-Holstein betreiben die Bergedorfer fünf weitere Anlagen, die bald aus der EEG-Vergütung fallen. Sie seien zu groß für die Direktvermarktung an Privatkunden. Deshalb will die NET Gruppe über Zwischenhändler „an große Stromverbraucher kommen“. Die Windkraft-Pioniere würden dort gern repowern, „aber es gibt keine Planungssicherheit, denn der dem Flächennutzungsplan übergeordnete Regionalplan wird von der Verwaltung überarbeitet“.

Erstmals Rück- statt Zubau möglich

Heidorn hält die Entwicklung für katastrophal: „2021 fallen deutschlandweit 4000 Megawatt Leistung aus der Vergütung raus.“ Die Betreiber der Altanlagen müssten schauen, wie sie ihren Strom weiter vermarkten. Sonst würden viele Windräder abgebaut, käme es seit Start der Windenergie Mitte der 80er-Jahre erstmals zu einem Rück- statt Zubau.

Im Zeitraum 2017 bis 2019 sind 40.000 Arbeitsplätze in der deutschen Windindustrie verloren gegangen: „Das sind doppelt so viele, wie man mit Milliardenzuschüssen in der Braunkohleindustrie retten möchte.“ 2019 seien so gut wie keine neuen Anlagen (on-
shore) gebaut worden – „lediglich 207, die zusammen 691 Megawatt (MW) erzeugen. „Die Regierung wollte wiederum 3675 MW durch neue Anlagen erzeugen.“ Um die Klimaziele zu erreichen, seien wiederum „jährlich mindestens 5000 MW an Zubau onshore notwendig“. Heidorn geht davon aus, dass es „auch nicht besser“ wird.

Deshalb sei jetzt „Druck auf dem Kessel, weil die Klimaschutzziele im Windenergiebereich dramatisch verfehlt werden“. Doch bei einem Windenergiegipfel sei jüngst keines der vielen Probleme gelöst worden – „im Gegenteil“, sagt Heidorn. „Statt dessen wurde eine weitere Hürde gebaut: Der Abstand zur Wohnbebauung muss mindestens 1000 Meter betragen. Wobei schon fünf Häuser als Wohnbebauung gelten.“


Klagefreudige Anwohner seien ein Problem

Schuld an der Misere sei Sigmar Gabriel (SPD). Der ehemalige Umwelt- und Energieminister „wollte den Windkraft-Ausbau deckeln, weil der Ausbau der Stromleitungen nicht folgen konnte“, sagt Heidorn. „Ein weiteres großes Problem für den Ausbau der klimafreundlichen Energie seien Anwohner: „Jede zweite Genehmigung in Deutschland wird beklagt“, sagt Heidorn.

Dabei hätten andere Länder schon vor Deutschland die Erfahrung gemacht, dass durch das Ausschreibungssystem weniger Windenergie von weniger Akteuren (einigen Großen) erzeugt wird und die Strompreise steigen, betont der Diplom-Ingenieur. „Dadurch sinkt auch die Zahl der Anlagen-Hersteller in den jeweiligen Ländern.“ Sie gehen in Konkurs, bauen Arbeitsplätze ab, wandern ab.

Heidorn, der im Hamburger Vorstand des Bundesverbands Windenergie (BWE) ist, hält Ausnahmeregelungen für kleinere Anlagen für eine Lösungsmöglichkeit: „Sie könnten nach Festpreisen vergütet werden.“ Die EU lasse dies ausdrücklich zu. Auch an die neue Abstandsregelung müsse man ran, sonst sei kaum noch neue Windkraft möglich.

Konventionellen Energien alle Folgekosten aufschlagen

Eine weitere EEG-Novellierung kann der Diplom-Ingenieur nicht nachvollziehen: „Alle Windräder, die ab 2016 in Betrieb genommen wurden, haben keinen Vergütungsanspruch, wenn der Börsenpreis an mindestens sechs Stunden am Stück negativ ist. Dann werden die Anlagen abgeschaltet.“ Dies sei bei der NET Gruppe allein in diesem Jahr bereits an 173 Stunden der Fall gewesen, „während Braunkohle- und Atomkraftwerke weiter laufen“.

Es ginge auch anders, sagt Heidorn: „Wenn wir den konventionellen Energien den Preis für alle Folgekosten aufschlagen würden – von Kohlenstoffdioxid-Emissionen über Endlagerung von Atommüll und die Versicherung von Atomkraftwerken –, wäre der Strompreis am Markt um ein Vielfaches höher.“ Dann wäre das EEG überflüssig – setzt man den Börsenpreis zugrunde.