Hamburg. Unverhofft kommt oft: Deutschlands bester Tennisprofi kann in Paris seinen Grand-Slam-Traum erfüllen. Dafür muss er Nadal bezwingen.

Es war Ende Januar in Melbourne, als Alexander Zverev beschloss, Grundlegendes zu verändern. Vor dem Start der Australian Open, dem ersten von vier Grand-Slam-Turnieren der Saison 2022, hatte Deutschlands bester Tennisprofi viel gesprochen über die Chance, mit seinem ersten Triumph bei einem der vier Major-Events seines Sports an die Spitze der Weltrangliste vorzudringen. Nach seiner rätselhaft passiven Achtelfinalniederlage gegen den Kanadier Denis Shapovalov resümierte er, dass der Druck zu hoch gewesen sei. „Ich wollte dieses Turnier zu sehr gewinnen“, sagte er, „dadurch bin ich es viel zu verkrampft angegangen.“

An diesem Freitag nun lockt erneut Großes. Besiegt der gebürtige Hamburger im Halbfinale der French Open in Paris, des zweiten Grand-Slam-Turniers des Jahres, den Spanier Rafael Nadal, wäre die Hoffnung auf den ersehnten Durchbruch auf höchster Ebene so groß wie nur im Herbst 2020. Damals fehlten Zverev in seinem bislang einzigen Grand-Slam-Endspiel bei den US Open zwei Punkte gegen den Österreicher Dominic Thiem für den größten Erfolg seiner Karriere. In New York tröstete er sich noch damit, einer der kommenden Superstars zu sein und noch einige solcher Finals erleben zu können. Vor dem Start der Frankreich-Festwochen nun sagte er: „Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich mal ein Grand-Slam-Turnier gewinnen sollte.“

Vor Roland-Garros-Halbfinale: Junge Konkurrenz wartet bereits

Zwei Aspekte sind es, die diesen Satz bemerkenswert machen. Zum einen hat der Weltranglistendritte begriffen, dass den Status des Toptalents andere übernommen haben. Zverev ist mittlerweile 25 Jahre alt und muss sich in der Reihe derjenigen Profis, die noch kein Major-Turnier gewonnen haben, aber die glorreichen drei – Nadal (35/Grand-Slam-Rekordsieger mit 21 Titeln), Novak Djokovic (35/Serbien) und Roger Federer (40/Schweiz/beide je 20 Titel) – beerben könnten, längst jüngerer Konkurrenz stellen. Der Grieche Stefanos Tsitsipas (23), die Kanadier Shapovalov (23) und Félix Auger-Aliassime (21), der Norweger Casper Ruud (23), Dänemarks Shootingstar Holger Rune (19) oder der Spanier Carlos Alcaraz (19), den viele für Nadals legitimen Erben halten – alle später geboren.

Zum anderen liegt in der Formulierung „sollte“ zwar noch immer die Anspruchshaltung, das Maximum anzustreben, ohne die nirgendwo im Leben Maximales erreicht werden kann. Aber den oft selbst auferlegten Zwang, diesen letzten Schritt gehen zu müssen, scheint Alexander Zverev ein Stück weit von sich fernhalten zu können. Zurückhaltung ist angesichts der diversen verbrieften Ausraster des zum Jähzorn Neigenden sicherlich angebracht. Aber die Ruhe, mit der er im Viertelfinale der Urgewalt des spanischen Jungbullen Alcaraz und den Antipathien des Publikums trotzte und nach einer durchwachsenen ersten Woche dann, als es zählte, vor allem mental seine Topleistung abrief, war beeindruckend. Alcaraz machte die Fehler, die Zverev früher selbst zu oft Siege kosteten – in manch entscheidender Phase war er zu ungestüm, wollte zu viel.

Um einer der großen zu sein braucht Zverev einen Grand-Slam-Titel

Alexander Zverev hat, das ist unbestritten, schon jetzt viel erreicht. Er ist Olympiasieger, war zweimal ATP-Weltmeister. Aber wer zu den ganz Großen des Tennis zählen will, der braucht einen Grand-Slam-Titel. Diese Zwei-Wochen-Events, bei denen jedes Match über drei Gewinnsätze gespielt wird, trennen die Besten von den Guten. Zverev stand zwar nicht nur 2020 im US-Open-Finale, sondern auch schon in Melbourne und Paris im Halbfinale. Aber Alcaraz war der erste Top-Ten-Spieler, den er auf Grand-Slam-Niveau schlagen konnte.

Ob das ein Zeichen war für ein neues Level der Stabilität oder nur ein Ausreißer, bleibt abzuwarten. Fakt ist, dass die ­Chance auf einen Sieg über French-Open-Rekordgewinner Nadal, der unglaubliche 13-mal in Paris triumphierte, selten höher war als diesmal, da der Sandplatzkönig nicht nur eine hartnäckige Fußverletzung, sondern auch die mehr als vierstündige Viertelfinalschlacht gegen Djokovic mit sich herumschleppt. Den Mallorquiner mit den Waffen zu schlagen, die ihn zum Dominator machten – Willensstärke und Gelassenheit –, wäre ein Coup, für den Zverev im Fall des anschließenden Turniersiegs mit Platz eins in der Welt belohnt werden würde. Er weiß das, er will das – aber er sollte weder darüber nachdenken noch reden. Sondern einfach machen; unverhofft kommt schließlich oft.