Hamburg. Die Enteignung durch die Inflation muss ernst genommen werden. Wie viel Kaufkraftverlust hält unsere Gesellschaft aus?

1. Mai? Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse? Mancher dürfte auf den gesetzlichen Feiertag, der diesmal auf einen Sonntag fiel, mit einem müden Lächeln reagiert haben. Hat Deutschland nicht andere Probleme? Stimmt. Doch wer glaubt, Sicherheit und Stabilität in Deutschland seien angesichts der russischen Aggression nur von außen gefährdet, verkennt die Risiken im Innern.

Krieg, Corona, Klimakrise und Inflation stellen den sozialen Frieden auf die Probe und sind ein Einfallstor für populistische Bewegungen. Schon vor der Zeitenwende, wie sie Kanzler Olaf Scholz ausgerufen hat, ging die Vermögensschere auseinander. Mit Kapitaleinsatz an den Börsen ließ sich mehr Geld verdienen als mit Erwerbsarbeit. Nun tut sich eine neue Schräg­lage auf: Während die Reallöhne sinken, schütten Aktienkonzerne Rekorddividenden aus. Und nicht alle Preiserhöhungen sind mit gestiegenen Produktionskosten zu erklären. Da gibt es Unternehmen, die nutzen die Gunst der Stunde, um Kasse zu machen.

Enteignung muss ernst genommen werden

Trotzdem bitte keine Neiddebatten. Doch die kalte Enteignung durch Inflation muss ernst genommen werden. Und es gehört zur Wahrheit, dass der Staat nur begrenzt helfen kann. So wird der von der Bundesregierung beschlossene Zuschuss zu den Energiekosten vielen Haushalten schnell wie ein Tropfen auf den heißen Stein vorkommen. Zudem schließt das Entlastungspaket die gut 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland aus. Staatliche Hilfe mit der Gießkanne zu verteilen, ist ohnehin wenig hilfreich. Hier schafft der zehn Milliarden teure Beschluss nur zusätzliche Spannungen.

Es stimmt schon: Deutschland jammert gern auf hohem Niveau. Doch wie viel Kaufkraftverlust durch die galoppierende Geldentwertung hält die Gesellschaft aus? Was, wenn zu den Nöten der Einkommensschwächsten der schleichende Abstieg der Mittelklasse kommt? Bislang hat sich der Arbeitsmarkt in Deutschland als sehr robust erwiesen. Doch vergessen wir nicht, dass der Bund in Corona-Zeiten mit 44 Milliarden Euro Kurzarbeitergeld einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert hat. Solche Stützungsmaßnahmen sind mit Blick auf den inzwischen aufgetürmten staatlichen Schuldenberg kaum wiederholbar.

Inflation trifft die Schwächsten

Der gesamte Westen ist – aufgeschreckt vom russischen Angriffskrieg in der Ukraine – zusammengerückt, heißt es. Aber trifft dies auch auf die Gesellschaften zu? Zumindest der Wahlausgang in Frankreich lässt Zweifel aufkommen. Die Stimmengewinne der rechtsextremen Partei von Marine Le Pen sprechen für einen tiefer werdenden gesellschaftlichen Graben.

Inflation trifft vor allem die Schwächsten der Gesellschaft. Ohne
ein Mindestmaß an gerechter Verteilung der Lasten drohen schnell gesellschaft­liche Spannungen. Alle sind deshalb gefordert. Zumal die deutsche Wirtschaft den harten Transformations­prozess noch vor sich hat, der sich aus Digitalisierung, Automatisierung und aus der Energiewende ergibt.

Parteien werden Eigeninteressen geleitet

Die Arbeiterbewegung hat den 1. Mai stets zum Anlass genommen, sich auf die eigene Kraft zu besinnen. Dieser Geist ließe sich auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Vielleicht ist sie ja weiter, als es die Parteien sind, die immer noch von Eigeninteressen ihrer Wählerklientel geleitet werden. Man denke an das Tabu, über eine höhere Vermögenssteuer oder über eine Bürgerversicherung auch nur zu diskutieren. Aber irgendwann muss die Rechnung aufgemacht werden.