Hamburg. Warum trauen viele der Wissenschaft nicht? Wissenschaftlicher Fortschritt nutzt am Ende nichts, wenn die Menschen ihn nicht annehmen.
Am 21. Oktober 2020 lag die Sieben-Tage-Inzidenz in Hamburg bei 58,9 Corona-Neuinfektionen je 100.000 Einwohner. Kein einziger Mensch war gegen das Virus geimpft.
Am Donnerstag wurde für die Stadt ein Wert von 87,8 gemeldet, und das, obwohl 1,31 Millionen Hamburgerinnen und Hamburger eine vollständigen Impfung erhalten haben.
Die Zahlen zeigen: Wir mögen die Pandemie nicht mehr ernstnehmen, zu Ende ist sie leider immer noch nicht. Alles andere als ein erneutes Hochschnellen der Infektionen in den kommenden Herbst- und Wintermonaten wäre eine Überraschung. Vor einem Jahr lag die Sieben-Tage-Inzidenz bereits Mitte November hierzulande bei 150, in Großbritannien liegt sie derzeit schon bei 400.
Corona Hamburg: Was ist da schiefgelaufen?
Das Ärgerliche: Anders als vor einem Jahr hätten wir, und die Briten auch, diese Entwicklung diesmal verhindern können, wenn genügend Leute in den Frühlings- und Sommermonaten zu einer Impfung bereit gewesen wären. Waren sie aber nicht. Aktuell sind rund 55 Millionen Menschen in Deutschland gegen Corona geimpft, was gleichzeitig heißt: rund 27 Millionen sind es nicht – weit, weit mehr als die, die sich nicht impfen lassen können (vor allem die unter Zwölfjährigen) und die, die Experten zu den prinzipiellen Impfgegnern zählen (weniger als fünf Prozent der Bevölkerung).
Was ist da schiefgelaufen? Wieso hat es ein Land wie das unsrige nicht geschafft, trotz im Übermaß vorhandener Impfstoffe so viele Menschen zu immunisieren wie Portugal oder Malta, die beide eine Impfquote über 80 Prozent haben, oder wie Dänemark, Irland, Island, Spanien und Kambodscha, die zum Teil deutlich über 70 Prozent liegen?
Wer Erklärungen sucht, landet, wie so oft im Verlauf der Pandemie, bei Christian Drosten. Der Virologe sieht einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau und der Impfbereitschaft in den verschiedenen Ländern. Auch Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, erkennt in einer Impfquote von unter 70 Prozent ein Versagen des deutschen Bildungssystems, das sich leider auch nicht schnell beheben lässt.
Wahrscheinlich ist Impfen nicht nur eine Frage der Bildung
Tatsächlich zeigen einerseits frühere Umfragen, dass Menschen Impfungen grundsätzlich positiver gegenüber stehen, je höher ihr Bildungsabschluss ist. Andererseits fragt man sich aber, wie es dann sein kann, dass das Bundesland, das in Deutschland in allen Bildungsstudien meist am schlechtesten abschneidet, nämlich Bremen, derzeit das einzige ist, dass eine Impfquote über 80 Prozent hat - während das leistungsstarke Sachsen gerade mal auf 60 Prozent kommt.
Wahrscheinlich ist Impfen nicht nur eine Frage der Bildung, sondern vor allem eine der Informiertheit und des Vertrauens in die Absender von Informationen, die, wenn es um Corona geht, meist Ämter, Behörden und Regierungen sind. Da hat Deutschland offensichtlich gerade in den ostdeutschen Ländern – aber auch, man wundert sich, in Bayern – deutlichen Nachholbedarf. Dort ist es bisher nicht gelungen, die Menschen über die Vorteile einer Impfung so zu unterrichten wie etwa in Schleswig-Holstein und Hamburg, wo die Quoten bereits über 70 Prozent liegen.
Die einen werden verzweifeln, dass eine aufgeklärte Gesellschaft wie Deutschland es nicht schafft, mit der Hilfe der Wissenschaft eine Pandemie zu beenden. Die anderen werden die Aufklärung als Argument anführen, dass sich so viele nicht haben impfen lassen, weil jeder eben das macht, was er für richtig hält. Im Ergebnis stehen uns erneut unsichere Monate bevor – und wir müssen mit der (bitteren) Erkenntnis leben, dass wissenschaftlicher Fortschritt am Ende nichts nutzt, wenn die Menschen ihn nicht annehmen.