Die US-Musikerin hat gleich 27 Komponisten beauftragt, für sie 27 kurze Zugabenstücke zu schreiben. Jetzt sind sie auf der CD „The Hilary Hahn Encores“ erschienen, von süffig-melodiös bis hörbar zeitgenössisch.

Hamburg. Wenn ein klassisches Konzert ein Menü ist, dann ist die Zugabe die Praline zum Schluss. Sie steht nicht im Programmheft, sie ist der letzte, frischeste Eindruck, den der Hörer mit nach Hause nimmt, und mitunter gibt der Künstler mit seiner Zugabe am meisten von sich preis. Eigentlich erstaunlich, wie wenig sie trotzdem bewusst wahrgenommen wird.

Das hat die Geigerin Hilary Hahn, gleichermaßen bekannt für ihre atemberaubende Virtuosität wie für ihren künstlerischen Eigenwillen, gerade handstreichartig geändert. Sie hat bei 27 Komponisten, darunter so prominente Vertreter der zeitgenössischen Musik wie Einojuhani Rautavaara oder Lera Auerbach, 27 Zugaben in Auftrag gegeben, die reiche Ernte ist auf der CD „The Hilary Hahn Encores“ zu hören.

„Encore“ ist der englische Ausdruck für „Zugabe“. Ursprünglich kommt das Wort aus dem Französischen, wo es schlicht „noch mal“ bedeutet – das Befehls-Ausrufezeichen kann man sich getrost dazudenken. „Noch mal“, das ist ein Hinweis auf die Ursprünge der Zugabe. In der Barockzeit spielte man nicht am Schluss einer Darbietung ein zusätzliches Werk, sondern wiederholte eines – Begeisterung vorausgesetzt. Bereits 1712 schrieb ein Leser an den Londoner „Spectator“: „Wie ich sehe, ist es Brauch geworden, dass, wenn ein Lied den Leuten besonders gefallen hat und sie Encore oder Altro Voltro schreien, der Künstler es für sie noch einmal singt.“ Und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dadurch etwa die Opernhandlung unterbrochen wurde. Diese Übung ist in der Oper in Italien und Spanien bis heute anzutreffen. In Norddeutschland lassen sich die Leute immerhin zum Szenenapplaus hinreißen – was im Konzert doch verpönt ist.

Die Zugabe, wie wir sie kennen, ist ein Kind des modernen Starkults. Der kam in den 1830er-Jahren in Gestalt von Franz Liszt in die Welt. Der Tastenlöwe eroberte die Salons und Säle und vor allem die Damenwelt. Liszts Anbeterinnen rissen sich um seine angerauchten Zigarren und halb leeren Teetassen. War da nicht eine Zugabe des Meisters, dargeboten mit dem Charisma des genialen Verführers, ein aufs Delikateste sublimiertes Versprechen?

Jedenfalls ist sie ein Geschenk des Künstlers ans Publikum. Er ist zu ihr nicht verpflichtet. Deshalb bleibt sie auch schon mal aus. Solist oder Dirigent bedeuten dem tobenden Publikum mitunter mit Winken oder ungerührten Verbeugungen, dass es das war für diesen Abend. Weil sie physisch nicht mehr können. Weil sie sich auf das Feierabendbier freuen. Weil der Hausmeister pünktlich das Licht ausmachen will. Oder auch, weil ein Requiem oder das düstere Ende einer Mahler-Sinfonie keinen Rausschmeißer vertragen.

Das ist angemessener, als eine Pflichtübung zu absolvieren. Da wird dann schnell noch mal das Menuett aus der eben gespielten Sinfonie hinterhergeschoben, bevor der Beifall abebben will, damit es nicht peinlich wird. Meistens spürt das Publikum aber doch, ob der Tour-Bus auf die Musiker wartet.

Wahres Zugabenglück klingt anders. Manche Künstler genießen es sichtlich, nach getaner Arbeit auch in Worten mit den Zuhörern in Kontakt zu treten. Gerade Sängerinnen trällern hinter der Ziellinie noch eine halbe Operngala zusammen, garniert mit Anekdoten aus ihrem Divenleben oder gar mit Grüßen an treue Fans in Reihe fünf. Bei der Cellistin Sol Gabetta hat man mitunter den Eindruck, dass das eigentliche Programm nur die Einleitung zur folgenden Jamsession war, soviel Charme und Esprit versprüht sie im Dialog mit dem Publikum. Wieder andere spielen einfach los, nach dem Motto, wenn ihr Hörer nicht wisst, welches Stück das ist, euer Pech.

Wie eine Zugabe beschaffen zu sein hat, darauf gibt es keine gültige Antwort. Klar, da sind Evergreens wie Paganinis Geigen-Capricen, die auf kleinem Raum Virtuosität und Sentiment vereinen und sich deshalb besonders eignen, aber streng genommen ist die Zugabe kein eigenes Genre. Strauß-Walzer, langsame Bach-Sätze und Chopin-Préludes sind Standard. Seit jeher bedienen sich die Musiker aus dem Repertoire, wie es ihnen passt. Kaum ein Werk in der Musikgeschichte ist explizit als Zugabe komponiert worden.

Bis zu Hilary Hahns Projekt. Auch sie hat den Komponisten nichts vorgeschrieben. Ihre einzigen Vorgaben: Die Stücke sollten für Geige und Klavier und höchstens fünf Minuten lang sein. Herausgekommen ist eine Bonbonniere voller nagelneuer Töne. Die Musik flüstert und schreit, sie splittert und haucht, sie tanzt, zwitschert und lacht. Du Yuns „When a Tiger Meets a Rosa Rugosa“ entführt den Hörer mikrotonal in den Orient, Avner Dorman würfelt in „Memory Games“ die Synkopen durcheinander, und Valentin Silvestrovs „Two Pieces“ schmachten in der vertrauten Harmonik des späten 19. Jahrhunderts. Hahn und der Pianist Cory Smythe nutzen das Ausdrucksspektrum dieses Kaleidoskops voll aus. Spieltechnische Fußangeln? Doch nicht für Hahn.

Zugaben können auftrumpfen oder ins Nachdenkliche führen, sie können die programmatische Aussage des Abends erweitern oder das Hauptwerk an die Wand quetschen. Bei Liederabenden gewähren die Künstler oft einfach mehr desselben, nämlich weitere Lieder. In jedem Fall sagt die Stückauswahl etwas darüber aus, was sich der Künstler für den Abend gedacht hat, wie er sich selbst wahrnimmt, wie er das Publikum entlassen will und auch, wie er es einschätzt.

Heitere Zugaben klingen mitunter wie eine Entschuldigung für das, was die Musiker ihrem Publikum vorher an Intensität und Ungewohntem zugemutet haben. Oder der Solist nimmt sich die Freiheit, ohne Absprache mit dem Dramaturgen etwas ganz Neues an die Männer und Frauen zu bringen, die da mit offenen Ohren und Herzen vor ihm sitzen. Schließlich ist Neue Musik in der konfektionierten Häppchenform noch für den rückwärtsgewandtesten Traditionalisten zumutbar.

Kontrollwütige Veranstalter und Orchestergewerkschaften versuchen zwar, auch das letzte Reservat der Spontaneität im klassischen Konzert einzufrieden. Doch ein wenig von der verschlüsselten lisztschen Erotik schwingt in jenen trunkenen Momenten zwischen Spannung und Hingabe, in denen sich die Grenzen zwischen Künstler und Hörern aufzulösen scheinen, immer noch mit. Es gibt diese Momente nicht nach jedem Konzert, bestimmt nicht. Aber es gibt sie.

„The Hilary Hahn Encores“

(Deutsche Grammophon)