Im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib wurde gefoltert – von Saddam Husseins Schergen ebenso wie von US-Soldaten. Nun fordern die Bewohner Bagdads Unterstützung. Einige aber wollen etwas ganz anderes.

„Ich verstehe nicht, wie Sie nach Abu Ghraib kommen konnten“, sagt Abu Hala entsetzt. In seiner bescheidenen Wohnung fällt der Putz von Decke und Wänden. Die Eingangstür aus Sperrholz ist zerschlissen und notdürftig mit Holzplatten geflickt. „In dieser Gegend ist Europäern und ganz besonders Journalisten der Zutritt verboten. Es kann gefährlich für Sie werden.“

Kopfschüttelnd steht er auf und eilt hinaus, um im Laden an der Ecke Wasser und Fruchtsaft für seine Gäste zu holen. „Sie wissen“, sagt er im Gehen, „von Abu Ghraib aus sind es nur 20 Kilometer bis zu den ersten Stellungen von Daish.“ Mit Daish benutzt Abu Hala die arabische Abkürzung für den „Islamischen Staat im Irak und in Syrien (Isis)“.

In der nahe gelegenen Stadt Falludscha mit ihren 350.000 Einwohnern hat die irakische Regierung bereits im Januar die Kontrolle an die ultra-konservativen Islamisten verloren. Falludscha ist seither eine wichtige Rückzugs- und Machtbasis der Extremisten in der Provinz Anbar.

Abu Ghraib ist durch sein Hochsicherheitsgefängnis zu zweifelhaftem Ruhm gekommen. Mehr als einen Kilometer ziehen sich seine hohen Betonwände an der Hauptstraße des Ortes entlang. Es ist ein heruntergekommenes und abweisendes Grau, unterbrochen von mächtigen Wachtürmen, die mit Tarnnetzen verhängt sind. Hier sperrte der ehemalige irakische Diktator Saddam Hussein politische Gegner ein und ließ sie foltern.

Unauslöschliches Symbol der Folter im Irak

Nach der alliierten Invasion im Irak eroberten US-Soldaten das Gefängnis und übernahmen teilweise auch die menschenverachtenden Praktiken des Saddam-Regimes: Einige misshandelten und folterten dort systematisch irakische Gefangene. Abu Ghraib wurde zum Symbol der Brutalität der US-Besatzung und machte den Ort zu einem Hauptziel der Al-Qaida-Gegenwehr.

Hunderte von Terroristen kamen, um hier die Besatzungsmacht zu bekämpfen. Die US-Truppen sind abgezogen, das Gefängnis wurde im April geschlossen und die Stadt ist mittlerweile unter der Kontrolle der irakischen Armee. Aber die radikalen Islamisten sind immer noch präsent.

„Man kann von insgesamt 1500 Schläferzellen ausgehen, die zur Isis-Gruppe gehören“, erklärt Hischam Haschimi vom Al-Rafidian-Zentrum für Strategische Studien in Bagdad. „Sie werden aktiv, sobald die Stadt angegriffen wird. Dann übernehmen sie Sicherheits- und Ordnungsfunktionen sowie die Verwaltung der Stadt, während die Kampfverbände weiterziehen.“

Abu Ghraib liegt mitten im westlichen Verteidigungsgürtel der Hauptstadt und Haschimi ist sicher, dass es angegriffen wird. Die Region sei unüberschaubar und kaum vor Infiltrationen zu schützen. „Abu Ghraib hat mit seinem direkten Zugang nach Bagdad eine hohe strategische Bedeutung, zumal auch der internationale Flughafen der Hauptstadt nur 20 Kilometer entfernt liegt.“

Abu Ghraib wird zum Schlüssel für die Eroberung Bagdads

Mit zeitgleichen Attacken müsse im Norden und Süden Bagdads gerechnet werden. Haschimi glaubt, dass 90 Prozent der Bevölkerung den Einmarsch der Islamisten willkommen heißen würden. Die sunnitische Bevölkerung sei höchst unzufrieden mit der schiitischen Regierung in Bagdad, die sie nicht respektiere und von deren Milizen sie sich gedemütigt fühle.

„Natürlich gibt es viele, die werden jubeln, sollte Isis in Abu Ghraib einmarschieren. Sie denken, sie werden befreit“, sagt Abu Hala. Ein wenig könne er das auch verstehen. „Seit Jahren haben wir protestiert, aber die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad hat uns völlig ignoriert.“

„Das ist völlig übertrieben“, behauptet Talal Zoubei, der für den Wahlkreis Abu Ghraib im Bagdader Stadtparlament sitzt. „Obwohl die Bevölkerung von der Regierung diskriminiert wurde, bin ich überzeugt davon, dass sie nie mit Isis kooperieren würden.“ Die Menschen von Abu Ghraib hätten jahrelang zu sehr unter radikalen Islamisten gelitten.

Abu Hala jedenfalls heißt die Isis nicht willkommen. Er kann sie nicht ausstehen. Es sei schon schrecklich gewesen, als al-Qaida in Abu Ghraib das Sagen hatte. „Sie legten Bomben und töteten nach Lust und Laune“, berichtet der 36-jährige Vater von drei Töchtern. „Sie schnitten den Menschen Finger ab, wenn sie rauchten, pafften aber selbst.“ 2008 musste Abu Hala aus seiner Heimatstadt nach Mossul flüchten. Al-Qaida hatte gedroht, ihn zu töten, weil einer seiner Freunde in der irakischen Armee diente.

Mossul war frei, jetzt herrschen dort die Isis-Extremisten

„In Mossul besuchten mich dann einige Freunde“, erinnert sich Abu Hala mit einem Grinsen im Gesicht. „Sie hatten ihre Zigaretten in den Schuhen versteckt und ich lachte sie aus.“ Sie seien sehr verwundert gewesen, dass sich Raucher in Mossul nicht vor al-Qaida verstecken mussten.

2011 kam Abu Hala nach Abu Ghraib zurück, weil durch die Präsenz der Sicherheitskräfte der Regierung ein einigermaßen normales Leben wieder möglich war. „Seit Isis Mossul eingenommen hat und vor Bagdad steht, hängt für mich wieder alles in der Luft“, erzählt Abu Hala frustriert. Alle Bewohner würden das Haus kaum noch verlassen und es gäbe fast keine Arbeit mehr.

Für den freiberuflichen Elektriker ist das ein Desaster. Es gibt Tage, an denen verdient er gerade einmal 7000 Dinar, das sind umgerechnet 4,40 Euro. Unter normalen Umständen mache er in einer Woche 250 Euro. Für Abu Hala steht fest: „Sobald der erste Schuss in Abu Ghraib fällt, nehme ich meine Familie und verschwinde. Mit den Islamisten wird alles nur noch schlimmer. Am Anfang geben sie sich freundlich und danach drehen sie langsam und unerbittlich die Schrauben an.“

Mit auf die Flucht würde er seinen Bruder, seine Schwester mit ihren Kindern und dann natürlich seine eigene Familie nehmen. „Das Problem ist nur: Wohin sollen wir flüchten? Ich schwöre bei Gott, ich habe nicht die geringste Ahnung!“

Tränen der Verzweiflung: Wohin kann man fliehen?

Während Abu Hala spricht, läuft seine jüngste Tochter barfuß über den Steinboden im Wohnzimmer. Der Vater nimmt die Zweijährige in den Arm und küsst sie mehrfach. Dann kann Abu Hala seine Tränen der Verzweiflung und Angst vor der Zukunft nicht mehr zurückhalten. Erst nach Minuten fasst er sich wieder und erzählt von seinem Freund in Kerbela, den er aus Kindertagen kennt. „Er ruft mich jeden Morgen an, um zu hören, ob ich noch am Leben bin.“ Vielleicht kann er bei ihm Unterschlupf finden.

Abu Hala nennt die Forderungen, die die sunnitischen Bewohner Abu Ghraibs aufgestellt haben: Die Freilassung der Gefangenen, insbesondere der Frauen, die von schiitischen Milizen willkürlich verhaftet worden seien. Sunniten sollten Posten in der Verwaltung erhalten, nicht nur Schiiten. Das Terrorismusgesetz solle aufgehoben werden, das Inhaftierungen ohne nachvollziehbare Gründe und nach Aussagen von Spitzeln rechtfertige.

„Vor allen Dingen wollen wir aber Arbeitsplätze, kontinuierliche Versorgung mit Strom, nicht nur acht Stunden am Tag. Bessere Krankenhäuser und anständige Straßen“, fügt Abu Hala verärgert hinzu. Tatsächlich ist die Stadt völlig verwahrlost. Überall liegt Müll, die Nebenstraßen sind ungeteerte, holprige Pisten, Gebäude verfallen.

Die Ignoranz der Schiiten rächt sich jetzt

Die jahrelange Vernachlässigung der sunnitischen Wohngebiete und die Ignoranz der überwiegend schiitisch besetzten Verwaltungen und Kommunalregierungen ist der Grund für den Zorn der irakischen Sunniten. Diese Wut trieb sie in die Rebellion und die sunnitischen Stämme sogar zum Pakt mit Isis. Die Islamisten konnten nur deshalb so blitzartig große Teile des Iraks erobern, weil sich ihnen in allen sunnitischen Gebieten bewaffnete Gruppen anschlossen und ein signifikanter Teil der Bevölkerung diese Allianz unterstützte.

Abu Hala hat diese tägliche Diskriminierung am eigenen Leibe erfahren. Er sei einmal im Haus seines Onkels bei einer Hausdurchsuchung verhaftet worden, sagt er. Auf dem Polizeirevier habe man ihn zuallererst gefragt, ob er Sunnit oder Schiit sei. „Ich sagte ihnen, ich bin Iraker und stolz auf mein Land. Die Religion spielt keine Rolle.“

Daraufhin habe man ihn verprügelt, eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt und immer wieder Erstickungen simuliert. Am nächsten Tag wurde er erst freigelassen, nachdem er unter Zwang zugegeben hatte, dass er Sunnit sei. Misshandlungen sunnitischer Bürger sind die Mittel schiitischer Milizen mit Verbindungen zur Regierung. Das haben internationale Menschenrechtsorganisationen mehrfach beklagt.

Abu Hala aber lässt sich als gläubiger Muslim nicht von dem Grundsatz abbringen, den er aus dem Koran zitiert: „Wenn einer einen Menschen tötet, dann ist es so, als habe er die gesamte Menschheit getötet.“ Er werde niemals einen Menschen töten. Keinen Schiiten, keinen Isis-Kämpfer – niemanden.