Hamburg. Digitale Gespräche anstatt persönlicher Termine. Firmen in Hamburg bieten weniger Ausbildungsplätze an. Neue Bilanz für Arbeitsmarkt.
Henning wird im nächsten Jahr an einer Hamburger Stadtteilschule das Abitur machen. Was danach kommt, weiß er noch nicht so genau. „Ein Jahr ins Ausland ist nicht so mein Ding“, sagt er, „lieber gleich in eine Ausbildung starten.“ Es gibt da mehr als eine Idee. Vielleicht auf Lehramt studieren, „oder erst mal eine Lehre machen und danach studieren. Elektrik finde ich interessant“, sagt der 18-Jährige. „Spannend, da hast du dir ja schon viele Gedanken gemacht“, sagt Julia Wagner.
Die Berufsberaterin sitzt in ihrem Büro in der Agentur für Arbeit an der Kurt-Schumacher-Allee vor dem Bildschirm, Henning vor dem Rechner im Dachzimmer seines Elternhauses. Wagner und der Schüler haben sich zu einem ersten Orientierungsgespräch in einer Videokonferenz zusammengeschaltet. Vor einem Jahr hätten sich die beiden persönlich gegenübergesessen. Das geht nun nicht mehr. Seit März 2020 sind die Räume der Agentur für den Besucherverkehr weitgehend geschlossen.
Berufsberatung seit Herbst per Video möglich
Die Berater telefonieren jetzt viel mit den jungen Leuten, die vor dem Berufsstart stehen oder auf der Suche nach Unternehmen sind, die Lehrstellen in ihrem Traumberuf anbieten. Seit dem Herbst ist die Beratung bei Julia Wagner und ihren Kolleginnen und Kollegen auf Wunsch auch im Videogespräch möglich. Praktika in Unternehmen, der direkte Kontakt zwischen Firmen und Lehrstellenbewerbern bei Ausbildungsmessen und Speeddatings, Berufsberatung in Abschlussklassen – all das ist in Zeiten der Pandemie tabu.
Die Berufsorientierung und Lehrstellenvermittlung findet inzwischen fast ausschließlich im digitalen Raum statt. Auch Handwerks- und Handelskammer haben ihre Onlineberatungsangebote massiv ausgebaut. Die Woche der Berufe, eine der wichtigsten Veranstaltungen vor dem Ausbildungsstart im Sommer, findet Mitte März ausschließlich digital statt.
„Corona verschärft die Situation auf dem Ausbildungsmarkt“
Gleichzeitig wachsen die Befürchtungen, dass in diesem Jahr erneut weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen werden. „Das Ausbildungsjahr 2021 wird schwierig. Corona verschärft die Situation auf dem Ausbildungsmarkt“, sagte Detlef Scheele, der Chef der Bundesagentur für Arbeit, vor Kurzem. Verunsicherung löse die Pandemie auf beiden Seiten aus. Viele Firmen steckten in der Krise und böten weniger Lehrstellen an. „Zugleich gibt es viel weniger Bewerber. Das macht mir Sorge“, so Scheele.
Schon im vergangenen Jahr hatten Corona und die Folgen für die Wirtschaft deutliche Bremsspuren auf dem Hamburger Ausbildungsmarkt hinterlassen. Bei der Handelskammer wurden zwischen Anfang Januar und Ende Dezember nurmehr 7283 neue Lehrverträge registriert. Es waren genau 1300 und damit 15,1 Prozent weniger als ein Jahr zuvor.
600 anstatt 900 Verträgen in Hotels und Gaststätten
In Hotels und Gaststätten war der Einbruch am größten. Statt fast 900 wurden knapp 600 Verträge unterschrieben – minus 33 Prozent. Bei der Handwerkskammer steht die Jahresbilanz noch aus, die Tendenz ist aber eindeutig: „Deutlich weniger“ neue Lehrverträge habe es gegeben, heißt es. In Kosmetikstudios, die im Frühjahr noch länger geschlossen blieben als die Friseursalons und es wie diese auch jetzt wieder sind, starteten nur vier neue Azubis. Im Jahr zuvor waren es noch 24 gewesen.
Inzwischen ist die Vermittlungsrunde für den Ausbildungsstart im Sommer angelaufen. Die Firmen melden ihre freien Stellen an die Arbeitsagentur und die Vermittlungsbörsen der Kammern, junge Leute lassen sich als Bewerber registrieren. Die Zahlen deuten darauf hin, dass die Sorge von Bundesagentur-Chef Scheele berechtigt ist. Die Handwerkskammer meldet derzeit 1008 freie Stellen, vor Jahresfrist waren es 1222.
Zahl der Bewerber auf 4450 gesunken
Sönke Fock, der Geschäftsführer der Arbeitsagentur in Hamburg, sagte am Freitag zum Stand der Dinge in der Hansestadt: „Uns sind branchenübergreifend 6192 betriebliche Ausbildungsstellen gemeldet. Damit liegen wir mit 571 Stellen oder 8,4 Prozent unter dem Vorjahresniveau.“ Zugleich sei aber auch die Zahl der registrierten Bewerber auf etwa 4450 gesunken.
„Wenn in der Hamburger Wirtschaft der Vertrieb stockt, die Umsätze einbrechen, Hotellerie und Gastronomie keine Gäste haben, Veranstaltungen verboten sind und keine Schülerpraktika in Unternehmen absolviert werden können, dann wirkt sich das unmittelbar auf den Ausbildungsmarkt aus“, sagt Fock.
Arbeitslosigkeit in Hamburg stieg in 2019 und 2020
Gleichwohl gebe es weiter Vermittlungsaufträge aus den von Corona-Einschränkungen besonders betroffenen Gewerben wie Gastronomie, Veranstaltungen und Tourismus – nur sind es sehr viel weniger. Für angehende Veranstaltungskaufleute kann die Agentur derzeit zwölf freie Plätze bieten statt 39 wie im Januar 2019. Friseure haben aktuell Bedarf für 48 Nachwuchskräfte angemeldet, vor einem Jahr waren es 105.
Der Agenturchef zog am Freitag zugleich die Bilanz für den gesamten Hamburger Arbeitsmarkt: Im ersten Monat des Jahres ist die Zahl der Arbeitssuchenden um 4574 auf nun 86.933 gestiegen. „Einen Zuwachs in dieser Größenordnung haben wir erwartet“, sagte Fock. Auch im Januar 2020 und 2019 sei die Arbeitslosigkeit in der Stadt um jeweils mehr als 4000 Menschen angestiegen.
Arbeitslosenquote liegt nun bei 8,1 Prozent
Die Arbeitslosenquote liegt damit bei 8,1 Prozent. Das waren 0,4 Prozentpunkte mehr als im Dezember. Im Januar 2020 betrug sie nur 6,4 Prozent. In Schleswig-Holstein liegt die Arbeitslosenquote aktuell bei 6,3 Prozent und damit 0,9 Prozentpunkte höher als vor einem Jahr. Im Land zwischen den Meeren sind 98.900 Menschen ohne festen Job, ein Zuwachs von 6,6 Prozent zum Dezember. In Niedersachsen waren es 267.035 Arbeitslose, ein Plus von sechs Prozent, die Quote stieg auf 6,1 Prozent.
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Deutliche Wirkung zeigt inzwischen die Verschärfung der Lockdown-Regeln seit Mitte Dezember. Im Dezember und Januar gab es jeweils um die 1500 neue Kurzarbeit-Anzeigen aus Hamburger Betrieben. „Betroffen sind zusätzlich 29.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, so Fock. Angesichts der Pandemie überraschend stabil ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze insgesamt.
Hoffnung auf Entspannung der Pandemielage
Nach den jüngsten vorliegenden Zahlen aus dem November 2020 waren es 1,015 Millionen in der Hansestadt und damit nur 3000 weniger als ein Jahr zuvor. Dem massiven Jobabbau in der Gastronomie und bei Zeitarbeitsfirmen stehen Tausende neue Arbeitsplätze vor allem in der Verwaltung und im Gesundheitswesen gegenüber.
Für den Ausbildungsmarkt hoffen die Kammern einstweilen darauf, dass sich die Pandemielage im Frühjahr entspannt, die Firmen dann zügig weitere Lehrstellen bereitstellen und besetzen können. Auch Agenturchef Fock verbreitete Zuversicht: „Bis Ende September rechnen wir mit bis zu 10.000 gemeldeten Ausbildungsangeboten.“ Das wären etwas mehr als im vergangenen Jahr.