Hamburg. Mein Laden in Corona-Zeiten, Teil 12: Wie die Hamburger Unternehmerin Janine Werth ihr Geschäft durch die Krise steuert.
Darauf hat Janine Werth fast ein halbes Jahr gewartet. „Es war ein unbeschreibliches Gefühl, endlich wieder aufmachen zu können.“ Schon um 9 Uhr war sie an ihrem Tag eins nach dem Lockdown im Geschäft, den Arm voller frischer Blumen. Sie ist die Kleiderstangen mit der neuen Sommerkollektion durchgegangen, hat Schachteln mit Sonnencreme zurechtgerückt und letzte Preise aufgeklebt. Alles sollte perfekt sein. „Ich hatte mich im Kopf auf den Moment vorbereitet“, sagt die Einzelhändlerin einige Tage später. Und eigentlich war die Situation ja auch nicht mehr neu.
Schon zweimal seit Beginn der Pandemie hat Werth ihren Laden Werte Freunde in der Hamburger Innenstadt nach einem Lockdown wiedergeöffnet. Im April 2020 und – für wenige Tage – im März dieses Jahres. Aber jetzt war es anders. „Ich hätte weinen können“, sagt sie, „gleichzeitig vor Freunde über den Neubeginn und vor Erschöpfung nach den langen Schließungsmonaten mit der ständigen Existenzangst.“
Die Rückkehr in den Businessmodus
Hat sie aber nicht. Schon vor der Ladenöffnung um elf Uhr standen die ersten Kundinnen vor der Tür. Danach haben Janine Werth und ihr Team durchgearbeitet. „Rückkehr in den Businessmodus“ nennt sie das. Anpacken, handeln, das ist ihr Ding. „Ich bin Dienstleisterin durch und durch. Ich liebe es zu verkaufen“, sagt die 42-Jährige.
Teilweise seien die Kunden mit Listen gekommen, hätten sich systematisch durch das Angebot an nachhaltiger Mode und Naturkosmetik gearbeitet und die Einkaufskörbe voll gemacht. „Alle waren so froh und dankbar, mal wieder shoppen gehen zu können. In Echt, und nicht nur im Internet.“ Eine Stammkundin bot sogar ehrenamtliche Hilfe an. Die Termine für Kosmetikbehandlungen waren fast komplett ausgebucht – trotz Testpflicht. Auch Kontakterfassung und Abstandsregeln seien kein Problem gewesen. „Die Leute wissen inzwischen, wie es geht.“ Am Abend waren 6000 Euro in der Kasse – ein überdurchschnittlich guter Tag auch im Vergleich zur Zeit vor Corona.
Überlebenskampf seit 15 Monaten
Nach dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr habe sie noch Angst gehabt, ob die Kunden überhaupt wieder zurück in die Läden kommen, sagt Janine Werth. Das sei jetzt nicht mehr so. „Aber ich bin in ständiger Habtachtstellung. Ich möchte mir nicht gestatten zu denken, dass bald alles wieder normal ist.“
Seit mehr als 15 Monaten macht die Unternehmerin praktisch nichts anderes, als um ihr Geschäft zu kämpfen. Immer wieder hat sie sich mit ihren Mitarbeiterinnen etwas Neues einfallen lassen, um trotz der Ladenschließungen, Hygieneregeln und sich ständig ändernden Corona-Bestimmungen den Verkauf anzukurbeln: über Bestellungen am Telefon oder über E-Mail, tägliche Nachrichten in den sozialen Medien, mit Mini-Modeschauen per Video, wechselnden Rabattangeboten, digitaler Hautanalyse und zuletzt mit einem eigenen Onlineshop.
Mehr als eine halbe Million Euro Schulden
Das Abendblatt hat alle Phasen seit März 2020 begleitet, Erfolge und Rückschläge dokumentiert. Dass es so lange dauern würde, hat am Anfang niemand erwartet. Und auch nicht, dass die Geschäftsfrau mit dem unverwüstlich scheinenden Optimismus einmal in Erwägung ziehen könnte aufzugeben.
„Kein Worst-Case-Szenario der Welt hätte eine so lange Zwangsschließung beinhalten können“, sagt sie und immer noch schwingt in ihrer Stimme die Fassungslosigkeit und das Gefühl von Ohnmacht. Für Janine Werth geht es auch um ihren Lebenstraum – und um Schulden in Höhe von mehr als 600.000 Euro.
Langer Weg aus dem Krisenmodus
Und auch wenn die ersten Tage nach der Wiedereröffnung gut gelaufen sind, weiß sie: Das ist erst der Anfang ihres langen Wegs aus dem Krisenmodus. Schon während des ersten Lockdowns hatten die Umsatzausfälle die wachstumsorientierte Finanzplanung des 2018 gegründeten Start-ups über den Haufen geworfen. Mit Kurzarbeit, Mietstundungen und 20.000 Euro Corona-Soforthilfe hangelte sich Gründerin Werth durch – den Dispo-Kredit immer am Anschlag. Seitdem schleppt sie eine Liquiditätslücke von 90.000 Euro mit sich herum. Im Sommer und Herbst stiegen die Einnahmen wieder, lagen teilweise sogar deutlich über denen des Vorjahrs. Aber immer noch zu wenig, damit sich der Laden trägt.
Anfang Oktober feierte Werte Freunde zweiten Geburtstag mit Rekord-Tageseinnahmen von 15.000 Euro – an einem Tag. Ein Tanz am Vulkan. Schon die Corona-Beschränkungen im November ließen die Verkäufe wieder einbrechen, im Dezember mitten im Weihnachtsgeschäft kam der zweite Lockdown. „Auf mehr als 400.000 Euro summieren sich die Umsatzverluste inzwischen“, sagt Janine Werth.
Es hängt zu viel dran, um aufzugeben
Bei anderen Gründern wäre die Geschichte hier wahrscheinlich zu Ende. Branchenexperten wie der Präsident der Handelsverbands Nord, Andreas Bartmann, rechnen damit, „dass ein zweistelliger Prozentsatz an Unternehmen das nicht überstehen wird“. Die Werte-Freunde-Chefin, die bei allen Finanzfragen ihren Lebenspartner Stefan Schmid zur Seite hat, hat bislang immer eine Lösung gefunden, um weiterzumachen. „Es hängt zu viel daran, als dass wir aufgeben könnten“, hatte sie Anfang des Jahres beim Start ihres Onlineshops gesagt.
Kurz zuvor war ein Kredit in Höhe von 130.000 Euro aus dem Hamburger Corona Recovery Fonds bewilligt worden. Ihr schönstes Weihnachtsgeschenk. Aber als der Lockdown auch im Januar, im Februar, im März und auch im April nicht endete und die Umsätze trotz des neuen Onlineshops erneut auf unter 30 Prozent dessen fielen, was geplant war, war ein neuer Tiefpunkt erreicht. Denn die Hoffnung auf staatliche Hilfen des Bundes schien sich nicht zu erfüllen. Das wachstumsorientierte Start-up fiel bei den Antragskriterien für die sogenannte Überbrückungshilfe III hinten runter.
110.000 Euro staatliche Hilfen
Inzwischen ist auch diese Klippe gemeistert. Werth stellte für drei Wochen im April und zwei weitere im Mai den Betrieb komplett ein. Ziel der radikalen Kehrtwende: möglichst wenig Umsatz machen, um antragsberechtigt zu sein. Das scheint paradox, aber so will es die staatliche Förderpraxis. Ende April, etwa drei Wochen nach der Antragstellung, hatte sie die erste Abschlagszahlung in Höhe von 55.000 Euro auf dem Konto – für Miete, Betriebskosten und Digitalisierung des Betriebs.
Geprüft und bewilligt wurde ihr Antrag für den Zeitraum von November 2020 bis Juni 2021 dann endgültig Anfang Mai. Daraufhin überwies der Staat die zweite Hälfte der Hilfssumme, noch mal 55.000 Euro „Ohne staatliche Hilfen hätten wir nicht überleben können“, sagt Janine Werth, bei der jeden Monat Fixkosten von 18.000 Euro auflaufen. Auch 90 Prozent des Einkaufswerts der unverkauften Winterware hatte sie ersetzt bekommen – insgesamt 45.000 Euro. 40 Kartons waren das. Inzwischen hat sie die veganen Daunenjacken, Pullis und Stiefel aus nachhaltiger Produktion an die Hilfsorganisation Hanseatic Help gespendet. „Die waren total begeistert“, sagt Janine Werth. „Und uns hat es die Sommerware finanziert.“
Endabrechnung kommt noch
Nur durch diese Hilfsmittel konnte sie die Rechnungen für die aktuelle Kollektion bezahlen. Schon jetzt ist klar, dass auch die sich nach dem Ausfall der Verkaufsmonate im Frühling wohl bei Weitem nicht verkaufen lassen wird. „Nachdem die Überbrückungshilfe III kürzlich erneut um unverkäufliche Saisonware aus der Frühjahrskollektion erweitert wurde, haben wir einen Änderungsantrag gestellt“, sagt Werth. Unter anderem auch für Umbaumaßnahmen im Kosmetikstudio, um die Hygienevorschriften zu erfüllen.
Auch deshalb hatte Werte Freunde sogar ein paar Tage länger geschlossen, als die Eindämmungsrichtlinien des Senat es verlangt hätten. „Wir können es uns schlicht nicht leisten, auf die Hilfen zu verzichten“, sagt Werth. Stand heute. Weiter denkt sie nicht. Klar ist aber, dass die Endabrechnung für die staatlichen Mittel kommt. „Es kann sein, dass wir dann etwas zurückzahlen müssen. Aber bislang passen unsere Prognosen ziemlich gut.“
Nun wird noch mehr auf den Onlineauftritt geachtet
Im Laden geht es jetzt darum, die Umsätze zu machen, um die Winterware zu bezahlen. Die mussten schon vor Monaten bestellt werden. Ab Juli kommen die ersten Lieferungen – und die Rechnungen. Und auch wenn das Ladengeschäft der Hauptpfeiler für Werte Freude ist, weiß Werth, dass sie ihr Unternehmen langfristig umorganisieren muss. Auch deshalb hatte sie eine neue Shopmanagerin ins siebenköpfige Team geholt, die auch Digitalexpertise hat. „Wir müssen mehr für den Markenaufbau tun, um die Abhängigkeit von dem geöffneten Geschäft zu reduzieren.“ Sprich: Der Anteil der Verkäufe über den Onlineshop muss steigen, auch über die Region Hamburg hinaus. „Corona ist nicht vorbei“, sagt die Unternehmerin. „Und wer weiß, was noch kommt.“