Hamburg. Brexit macht sich bemerkbar: Verband AGA und Spediteure melden fehlerhafte Rechnungen, verzögerte Lieferungen und Zollabfertigungen.
An der geografischen Entfernung zwischen Großbritannien und Deutschland hat sich nichts geändert – aber dennoch ist der Weg in den vergangenen Wochen länger geworden: zumindest was die Zeitschiene beim Warentransport betrifft. Diese Erfahrung macht mit Hans Fabian Kruse ausgerechnet der Präsident des norddeutschen Unternehmensverbandes AGA.
„Wir haben in England eine international gängige Chemikalie gekauft“, sagt Kruse, der im Hauptjob geschäftsführender Gesellschafter des seit 1892 tätigen Handelshauses Wiechers & Helm ist. „Auf die Lieferung warten wir nun schon seit etwa zehn Tagen, weil sie auf dem Transportweg zwischen der Insel und Hamburg festhängt.“
Warnung vor massiven Störungen im Güterverkehr
Zwar wurde der ungeregelte Austritt der Briten (No Deal) aus dem Binnenmarkt der EU zum Jahresende durch ein Handelsabkommen verhindert. London und Brüssel sicherten grundsätzlich den zollfreien Zugang zu den gegenseitigen Märkten zu. Aber dennoch kämpft die Wirtschaft nun mit den Folgen des Brexits.
Auch weil es zu der Einigung erst in letzter Minute kam und die neuen Regelungen quasi über Nacht umgesetzt werden mussten. Der Bundesverband der Deutschen Industrie warnte vor wenigen Tagen vor massiven Störungen im Güterverkehr von der und auf die Insel – und auch vor Hamburger Unternehmen machen die Schwierigkeiten nicht halt.
Staus und Engpässe trotz reduzierter Warenverkehre
Wegen Corona seien die Warenverkehre zwar um etwa 40 Prozent reduziert. Dennoch komme es zu Staus, Engpässen und Verzögerungen in der Abfertigung, teilt der AGA auf Anfrage mit. Der Unternehmensverband vertritt mehr als 3500 überwiegend mittelständische Groß- und Außenhändler in den fünf norddeutschen Küstenländern. Rund 1000 Hamburger Unternehmen treiben mit der Insel Handel.
Einige Betriebe hätten sich bereits im Vorfeld nach Alternativen umgesehen, britische Firmen gründen im Gegenzug Niederlassungen in der EU. Die Hansestadt unterhalte traditionell enge wirtschaftliche Beziehungen mit Großbritannien, insofern seien die Auswirkungen an der Elbe auch stärker zu spüren als anderswo, meint der AGA. Unter dem augenblicklichen Zustand am meisten würde die Logistikbranche leiden.
Lkw-Fahrer wollen nicht mehr nach England fahren
„Viele Lkw-Unternehmer haben das Problem, dass ihre Leute nicht mehr nach England fahren wollen, weil sie dort tagelang stehen würden“, sagt Willem van der Schalk, Geschäftsführer der Hamburger Spedition a. hartrodt und Präsident des Europäischen Verbandes für Spedition, Transport, Logistik und Zolldienstleistungen (Clecat). Das Personal auf der Insel sei häufig nicht gut geschult, teilweise würde mit veralteten Formularen gearbeitet, sagt van der Schalk. „Die Lkw-Verkehre kommen total ins Schlittern. Und die Lieferketten sind teilweise unterbrochen.“
Stark vertreten im Geschäft mit der Insel ist die Braaker Spedition Sterac. Ein Viertel des Jahresumsatzes werde mit Transporten in und aus dem Brexit-Staat erzielt, sagt die geschäftsführende Gesellschafterin Nicola Rackebrandt: „Mehrere Unternehmen haben den Service mit Großbritannien eingestellt. Aber für uns stand das nie zur Debatte.“ Rund 600 Lkw-Ladungen tauscht Sterac jeden Monat mit dem Inselstaat aus.
Zolltechnische Abwicklung dauert nun deutlich länger
Die Anhänger werden in die Häfen von Cuxhaven oder Rotterdam gefahren, auf Schiffe verladen und in England von einem Partner weitertransportiert. Zugmaschine und Fahrer bleiben auf dem Festland. Transportiert werde alles, was später in den Regalen stehe: Schrauben, Stoffe, Lebensmittelzusatzstoffe, aber auch Maschinenersatzteile. Das Unternehmen investierte kräftig: Im November wurde der Fuhrpark um 42 Anhänger auf rund 200 Stück vergrößert, weil die Trailer nun länger im Hafen stehen würden.
Rackebrandt erläutert den Hintergrund: „Der Zeitaufwand, eine einzelne Sendung zu verarbeiten, hat sich massiv verlängert.“ Das hänge maßgeblich mit der zolltechnischen Abwicklung zusammen, weil Großbritannien nun ein EU-Drittland ist. Früher hätten die Fahrer einfach die Paletten aufgeladen und seien losgefahren. „Heute muss der Zoll erst einmal prüfen, ob die Ware rausdarf“, sagt Rackebrandt. Auch wenn der Zollsatz häufig bei null liegt – für bestimmte Warengruppen fallen doch Abgaben an.
Zollprüfung kann Zeitverzug von bis zu sechs Tagen bedeuten
Auch die Einfuhrumsatzsteuer wird fällig. Diese Zollprüfung sorgt für Verzögerungen. Vor allem wenn Informationen fehlen. Dann kann es passieren, dass ein mit bis zu 33 Paletten voll beladener Anhänger mehrere Tage steht, weil für ein Produkt noch eine Angabe gebraucht wird. „Wenn es gut läuft, haben wir einen Zeitverzug von einem Tag. Wenn es schlecht läuft, können es auch mal sechs Tage sein“, sagt Rackebrandt.
Der Kommunikationsbedarf habe enorm zugenommen. Beim AGA hat man festgestellt, dass neben Begleitdokumenten auch Rechnungen nicht nach den neuen Regeln ausgestellt worden seien und mehrfach korrigiert werden müssten.
Auswirkungen auch auf maritime Branche
Auch die maritime Branche spürt die Folgen des Brexits. Für die Mitarbeiter von Hapag-Lloyd bedeuteten die neuen Handelsvorschriften zusätzlichen bürokratischen Mehraufwand, sagt ein Sprecher. Auf die Frage, ob es derzeit Probleme im Warenverkehr mit Großbritannien gebe, lautet die Antwort: „Ja.“ Aber dies liege weniger am Brexit, sondern sei eine Folgewirkung der Corona-Pandemie. Seit dem dritten Quartal 2020 gebe es eine verstärkte Nachfrage nach Containertransporten aus Asien, die durch starken Konsum in den USA und Europa getrieben sei.
„Dies trägt auch zu den aktuellen Kapazitätsengpässen an britischen Terminals bei“, sagt ein Sprecher dem Abendblatt. Auch beim Hafenkonzern HHLA spricht man von erheblichen Schiffsverspätungen weltweit, im Schnitt von einer Woche. Wenn vor Hamburg noch britische Häfen angelaufen würden, würde dies zumeist zusätzliche Verspätung bedeuten.
Airbus spürt kaum Auswirkungen durch den Brexit
Andere große Hamburger Unternehmen haben sich offenbar gut auf den Brexit vorbereitet. Airbus bezieht beispielsweise die Flügel für seine Flugzeuge aus britischen Werken. Weil auf beiden Seiten des Ärmelkanals die Lager gut aufgefüllt wurden, „gibt es bislang durch den Brexit kaum Auswirkungen auf unseren Betrieb“, so ein Sprecher. Die Zertifizierung für Teile und Geräte musste aktualisiert werden, um den neuen Zollformalitäten zu genügen. Aber das sei gut gelungen.
Auch Beiersdorf, Tesa und Otto teilten mit, ihre Lagerbestände rechtzeitig vor Ort aufgebaut zu haben. „Hinsichtlich der etwaigen Auswirkungen auf Lieferzeiten befinden wir uns noch in Klärung“, sagt ein Otto-Sprecher. In jedem Fall entstünden aufgrund der Verzollung aber höhere Kosten.
Keine Auswirkungen in Lieferkette bei Beiersdorf
Es gebe keine nennenswerten Auswirkungen in der Lieferkette, heißt es beim Nivea-Hersteller Beiersdorf. Die seit Januar notwendige Zollabfertigung bringe aber diverse Formalitäten und daraus resultierende zusätzliche Prozesse mit sich, die einen „relevanten“ operativen Zusatzaufwand bedeuteten, so eine Sprecherin.
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Der grenzüberschreitende Warenverkehr für Einsatzmaterialien in den Werken und zur Belieferung der Kunden sei jederzeit sichergestellt gewesen, heißt es bei der Beiersdorf-Tochter Tesa. Engpässe bei Produkten oder Verzögerungen in den Fertigungsabläufen würden nicht erwartet. Zwar gebe es zusätzliche Abwicklungsschritte, aber durch das am Jahresende geschlossene Handelsabkommen liege der Mehraufwand hinter den Erwartungen zurück, so ein Sprecher des Klebstoffspezialisten. Die Abläufe seien mittlerweile gut eingespielt, die Belieferung erfolge planmäßig.
Hauptsorge sind nun Containermangel und fehlende Transportmöglichkeiten
Auch bei der Spedition Sterac spürt man eine gewisse Verbesserung der Lage, sagt Chefin Rackebrandt. „Wir sehen so langsam, dass es mit den Abläufen besser wird.“ Die Hauptsorge von AGA-Präsident Kruse gilt im Außenhandel vor allem dem Containermangel und fehlenden Transportmöglichkeiten.
Aktuell kämen „natürliche“ Schwierigkeiten wie das Rhein-Hochwasser dazu. Die Binnenschiffe müssten warten, sodass die Auftraggeber zusätzliche Verzögerungen in der Lieferkette spürten und für die verspätete Rückgabe von Containern zahlen müssten, so Kruse. „Die Lieferschwierigkeiten zwischen Großbritannien und der EU sind hoffentlich nur ein vorübergehendes Problem.“