Hamburg. Die Hamburger Wirtschaftsethikerin Sarah Jastram im Gespräch über moralisch vertretbares Handeln von Firmen während des Ukraine-Kriegs.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine stellt nicht nur Politiker vor die Frage, wie sie sich gegenüber den Kriegsparteien verhalten sollen. Auch Unternehmen und Investoren müssen in diesem Zusammenhang Entscheidungen unter moralischen Gesichtspunkten treffen: In welchen Fällen kann es vertretbar sein, mit Russland weiter Geschäfte zu machen? Darf man indirekt sogar aktiv in den Konflikt eingreifen, so wie es der US-Unternehmer Elon Musk tut, der über seine Satelliten die Ukraine mit auch militärisch nutzbaren Internetverbindungen versorgt? Und ist es noch zeitgemäß, wenn Nachhaltigkeitsstandards für Aktieninvestments ein Engagement in Rüstungsfirmen weiterhin ausschließen?
Das Abendblatt sprach darüber mit Sarah Jastram, seit 2015 Professorin für Internationale Wirtschaftsethik und Nachhaltigkeit an der privaten Hochschule Hamburg School of Business Administration (HSBA).
Hamburger Abendblatt: Haben etliche Unternehmen wahrscheinlich ihre Russland-Geschäfte nur deshalb eingestellt, weil sie anderenfalls Schaden für ihr Image befürchteten?
Sarah Jastram: Es spielen immer verschiedene Motive eine Rolle bei solchen Entscheidungen. Aber Image und Reputation sind hierbei sicher auch relevante Faktoren. Zumal sehr viel Druck, unter anderem über die sozialen Medien, auf Unternehmen entstanden ist.
Machen Unternehmen wie Ikea, die den Stopp der Russland-Aktivitäten mit dem menschlichen Leid des Ukraine-Krieges begründen, dieses Leid nicht noch größer, wenn die 15.000 Beschäftigten in Russland womöglich bald ohne Gehalt dastehen?
Soweit ich weiß, zahlt Ikea die Gehälter seiner russischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zumindest für die nächste Zeit weiter. So handhaben es auch andere Unternehmen, wodurch ungewollte negative Effekte auf die Belegschaft in Russland abgemildert werden können. Dieses Vorgehen ist auch aus strategischer Sicht sinnvoll, wenn Unternehmen vorhaben und hoffen, die Geschäfte in Russland nach der Unterbrechung wieder aufnehmen zu können.
Kann es vertretbar sein, weiter in Russland Geschäfte zu machen?
Ja, ich denke schon, zum Beispiel, wenn es sich um die Bereitstellung wichtiger medizinischer Instrumente oder Medikamente handelt.
Welches Entscheidungskriterium würden Sie einem Unternehmen vorschlagen, das abwägen will, ob sein Geschäft in Russland noch vertretbar ist oder nicht?
Spätestens, wenn durch das Aussetzen der geschäftlichen Tätigkeit Menschenleben in Russland gefährdet werden oder anderes großes Leid entsteht, zum Beispiel in Krankenhäusern, wäre es für mich moralisch geboten, diese Geschäfte weiterzuführen. Ich bin generell nicht überzeugt davon, Leid mit Leid zu vergelten. Zumal dies vor allem Putins Krieg ist. Wichtig ist aus meiner Sicht, neben den Sanktionen auch den Dialog mit der Bevölkerung nicht abreißen zu lassen. So können auch demokratische Werte vermittelt werden. Gute wirtschaftliche Beziehungen gehören zu einer friedlichen Koexistenz dazu, selbst wenn ökonomische Sanktionen derzeit ein wichtiges Signal und Instrument sind, um diesen Krieg hoffentlich schnell zu einem Ende zu bringen.
Überschreiten Unternehmen ihre Befugnisse, wenn sie sich als politischer Akteur gebärden?
Ich denke, Unternehmen sind de facto politische Akteure durch ihre Macht, ihren Einfluss auf politische Entscheidungen, aber auch durch eigene politische Handlungen wie beispielsweise die Schaffung und Verbreitung bestimmter Normen und Standards. Sie sind dabei allerdings nicht wie politische Akteure demokratisch legitimiert, müssen ihre Handlungen aber dennoch gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigen und begründen, um ihre Existenzberechtigung und die Unterstützung ihrer Anspruchsgruppen – Mitarbeiter, Kunden, Anteilseigner – nicht zu verlieren.
Setzen sich Firmen, die jetzt ihr Russland-Geschäft stoppen, nicht dem Vorwurf aus, inkonsequent zu sein, wenn sie ihr – womöglich viel größeres – China-Geschäft weiterführen, obwohl zum Beispiel Amnesty International die dortige Unterdrückung von Millionen Uiguren als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet?
Es gibt auch Unternehmen, wie etwa H&M, die – nach öffentlichem Druck – aufgrund des schlechten Umgangs mit den Uiguren die Geschäftsbeziehungen mit bestimmten Lieferanten beenden. Grundsätzlich sollten sich Unternehmen ihre internationalen Lieferketten genau anschauen und, sofern sie Risiken von Menschenrechtsverletzungen entdecken, entsprechende Maßnahmen ergreifen, um diese zu vermeiden. Das fordert inzwischen auch der Gesetzgeber von großen Unternehmen ein.
Wäre es nicht generell ehrlicher zu akzeptieren, dass Unternehmen nur wirtschaftliche Ziele verfolgen und dabei im Rahmen staatlicher Regelungen agieren?
Wirtschaftliche und politische Ziele überschneiden sich häufig. Zum Beispiel haben einige deutsche Industrieunternehmen wichtige Zulieferer in der Ukraine, sodass es sowohl ein politisches als auch ein wirtschaftliches Ziel ist, dort schnell wieder Frieden herzustellen.
Einige derselben Unternehmen, die vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges jetzt mit gesellschaftlicher Verantwortung argumentieren, betreiben Steuervermeidung in großem Stil. Geht das zusammen?
Natürlich wirkt es unglaubwürdig, wenn man sich in einem Bereich als verantwortlich handelndes Unternehmen darstellt, in anderen aber nicht verantwortungsvoll handelt – etwa wenn man nicht fair mit den Beschäftigten umgeht. Verantwortungsbewusste Unternehmensführung muss aus meiner Sicht immer das gesamte Geschäftsmodell betreffen. Manche Firmen erkennen das nicht und agieren eher so, als sei Verantwortung so etwas wie Sponsoring, was neben dem eigentlichen Geschäft stattfindet.
Kann ein Unternehmen in einer Marktwirtschaft überhaupt glaubwürdig andere Ziele verfolgen als die Gewinnerzielung?
Es gibt durchaus Beispiele für Firmen, die wirtschaftlich erfolgreich sind und sich darüber hinaus für übergeordnete Ziele engagieren. Das tun beispielsweise der Biotextilien-Versand Hess Natur und der Outdoorbekleidungshersteller Patagonia.
Investoren richten sich zunehmend nach Kriterien der nachhaltigen Unternehmensführung. Rüstungshersteller waren damit bei der Geldanlage meist ausgeschlossen. Aktuell wird aber darüber diskutiert, ob sich das wegen des Ukraine-Krieges nicht ändern muss. Wie sehen Sie dies?
Angesichts der jüngsten Ereignisse hat sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit geändert, was Rüstungsfirmen oder auch die Kernenergie angeht. Darin zeigt sich, dass die Beurteilung moralischer Fragen immer auch von den aktuellen Umständen beeinflusst wird. Rüstungsunternehmen würde ich dennoch weiter kritisch sehen, weil die Verwendung von Waffen eben auch großes Unheil anrichten kann – wie wir derzeit sehen können.