Hamburg. Auch Hamburger Titel verlieren in diesem Jahr kräftig an Wert. About You enttäuscht besonders. Das raten nun die Experten.
Zwar hat die Börse den Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine vom Ende Februar schnell wieder abgeschüttelt. Doch Anfang Juni hat ein zweiter drastischer Abschwung eingesetzt, der den Deutschen Aktienindex (DAX) fast genauso viele Punkte kostete und der noch immer nicht beendet ist.
Seit Januar hat der Leitindex um 17,5 Prozent nachgegeben – und damit um mehr als den gesamten Jahresgewinn 2021. Dass es ungewöhnliche Zeiten an der Börse sind, sieht man schon daran, welche deutschen Titel im bisherigen Jahresverlauf am besten abgeschnitten haben: Der Panzerbauer Rheinmetall mit einem Plus von 149 Prozent und Hensoldt, ein Hersteller von Militärelektronik (plus 88 Prozent).
Aktien: Das müssen Anleger jetzt wissen
Während sich die im HASPAX zusammengefassten Aktien aus der Metropolregion Hamburg im vorigen Jahr deutlich besser entwickelten als der DAX, haben sie sich seit Anfang Januar mit einem Minus von 15,7 Prozent geringfügig besser halten können als die Standardwerte.
Hier die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Gründen für die Verluste, zu den auffälligsten Hamburger Titeln und zu den Perspektiven des Aktienmarktes:
Was steckt hinter dem jüngsten Kursrutsch am Aktienmarkt?
„Wir erleben auch am Kapitalmarkt gerade eine Zeitenwende“, sagt Jochen Intelmann, der Chefvolkswirt der Haspa. Inflationsraten in einer Höhe, die man sich noch vor Kurzem nicht vorstellen konnte, zwängen die Notenbanken zu einer drastischen Abkehr von ihrer bisher äußerst lockeren Geldpolitik. „Ich glaube, dass auf jeder weiteren Notenbanksitzung in diesem Jahr eine Zinserhöhung beschlossen wird“, erwartet Intelmann.
Im März hatte die US-amerikanische Fed damit begonnen und Mittwoch sogar 0,75 Prozentpunkte auf einen Schlag draufgelegt. Die Europäische Zentralbank dürfte im Juli mit ihrer ersten Leitzinserhöhung seit 2011 folgen. Im Langfristbereich hat die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen seit Jahresbeginn von minus 0,18 auf plus 1,79 Prozent angezogen.
„Es hat sich ein regelrechter Giftcocktail für den Aktienmarkt zusammengebraut“, sagt Carsten Mumm, Chefvolkswirt des Bankhauses Donner & Reuschel. „Die Zutaten sind außer den steigenden Zinsen die explodierenden Energie- und Rohstoffpreise sowie die anhaltenden Lieferkettenprobleme.“
Welche Hamburger Titel haben besonders schlecht abgeschnitten?
Der Online-Modehändler About You, der vor einem Jahr mit großen Erwartungen sein Börsendebüt gab, hat die Anleger bisher bitter enttäuscht: Die Aktie des zur Otto-Gruppe gehörenden Unternehmens hat seit Januar um 68 Prozent nachgegeben und seit dem Börsenstart sogar um 75 Prozent. Ende Mai veröffentlichte About You auch noch eine Umsatzprognose für 2022, die unter den Markterwartungen lag. Allerdings ging es den Aktien von Wettbewerbern wie Zalando nicht viel besser. „Onlinehändler waren Profiteure der Pandemie und konnten sich zwei Jahre lang über eine Sonderkonjunktur freuen“, sagt Mumm. „Was wir jetzt sehen, ist die Korrektur nach diesen Höhenflügen.“
Titel des Wohnungsinvestors TAG Immobilien haben seit Jahresanfang um 54 Prozent an Wert verloren. Firmen dieser Branche werden durch den Zinsanstieg stark belastet – und am Montag stufte die britische Bank Barclays die Aktie von „Kaufen“ gleich auf „Verkaufen“ herunter.
Mit einem Kursminus von 46 Prozent seit Januar ist das Biotechnologieunternehmen Evotec nicht viel glimpflicher davongekommen. Zwar kann die Firma auf starke Umsatzzuwächse und ein gut gefülltes Auftragsbuch verweisen, hohe Investitionen in neue Produktionslangen drücken aber die Ergebnisse.
Und welche Hamburger Aktien gewinnen gegen den Trend an Wert?
Einsam an der Spitze stehen hier die Titel des Einkaufscenter-Investors Deutsche Euroshop mit einem Plus von knapp 50 Prozent. Ursache dafür ist aber nicht die Geschäftsentwicklung, sondern ein Übernahmeangebot: Die Otto-Familie will zusammen mit dem Finanzinvestor Oaktree die Aktienmehrheit erwerben. Alexander Otto ist mit gut 20 Prozent bereits größter Einzelaktionär. Während der Pandemie war es mit dem Kurs bergab gegangen.
Die Aktie des Wind- und Solarparkinvestors Encavis, die demnächst in den MDAX aufsteigt, legte um 16 Prozent zu. Das Unternehmen profitierte zuletzt von günstigem Wetter und von den gestiegenen Strompreisen.
Zu den ganz wenigen Gewinnern unter den Hamburger Börsenwerten gehört die Aktie des Kosmetikkonzerns Beiersdorf (plus 0,9 Prozent), die am Montag in den DAX zurückkehrt. Bis vor wenigen Tagen hätte auch noch die Reederei Hapag-Lloyd zu den Gewinnern gezählt. Doch auf einen regelrechten Kurshöhenflug (bis zu plus 54 Prozent seit Jahresbeginn noch Mitte Mai) angesichts zeitweise äußerst knapper Seetransport-Kapazitäten folgte ein steiler Absturz, weil man nun sinkende Frachtraten erwartet.
Wie wird sich die Aktienbörse in diesem Jahr weiter entwickeln?
Hier sind sich die Experten nicht einig. „Im zweiten Halbjahr sollten sich die konjunkturellen Perspektiven allmählich aufhellen“, sagt Mumm. „Vor diesem Hintergrund halten wir an unserer Jahresendprognose von 15.500 Punkten für den DAX fest.“ Haspa-Chefvolkswirt Intelmann ist nicht so zuversichtlich.
Am Aktienmarkt halte sich die Furcht vor einer Rezession, zudem machten die steigenden Zinsen Unternehmenskredite teurer und Anleihekäufe attraktiver als bisher. „Das wird jedenfalls kein ruhiger Sommer“, so Intelmann. „Der Markt ist hochgradig nervös. Mit DAX-Schwankungen von einigen Hundert Punkten an einem Tag werden wir weiter leben müssen.“
Welche Branchen sind jetzt besonders aussichtsreich?
„Anlegern, die jetzt zu den deutlich gesunkenen Kursen Aktien kaufen wollen, raten wir zu Unternehmen, die auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Geld verdienen und die genügend Marktmacht haben, Kostensteigerungen an die Kunden weiterzugeben“, sagt Intelmann.
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Das gelte etwa für den Telekommunikationsbereich. „Kurzfristig sollte man auf konjunkturunabhängige deutsche Substanzwerte setzen“, empfiehlt Mumm. „Mit etwas längerem Anlagehorizont kommen dann aber auch wieder Maschinenbau- und Technologietitel infrage. Außerdem profitiert die Finanzbranche vom Ende der Negativzinsen.“
Sind festverzinsliche Geldanlagen nun wieder attraktiv?
„Die Zeiten, in den Aktien alternativlos waren, sind vorbei – der Zins ist zurück“, sagt Intelmann dazu. Mumm bestätigt das grundsätzlich: „Einige unserer großen institutionellen Kunden überlegen, nun auch wieder längerfristige festverzinsliche Papiere zu kaufen. Aber die Realverzinsung, also der Zins abzüglich der Inflationsrate, ist negativ – und das wird sie nach unserer Einschätzung auch in den nächsten Jahren bleiben.“