Hamburg. Michael Berlemann spricht über den Krieg, Inflation und seine Pläne als neuer wissenschaftlicher Direktor des HWWI.

Lange hat das Hamburger Wirtschaftsforschungsinstitut HWWI nach einem neuen wissenschaftlichen Leiter gesucht. Am 1. März hat schließlich Professor Michael Berlemann die Position übernommen.

Im ersten großen Abendblatt-Interview erzählt der 53 Jahre alte Ökonom, wie es zu dem Engagement kam, was er mit dem HWWI vorhat und wie er die aktuell angespannte weltwirtschaftliche Lage mit dem Ukraine-Krieg und der nicht enden wollenden Corona-Pandemie einordnet.

Hamburger Abendblatt: Herr Professor Berlemann, Sie sind viel herumgekommen: in Düsseldorf geboren, dann waren Sie unter anderem in Lübeck, Bochum, Dresden. Seit 2006 sind Sie an der Bundeswehr-Universität in Hamburg. Fühlen Sie sich schon als Hamburger?

Michael Berlemann: Ein echter Hamburger ist man ja – so habe ich es verstanden – nur, wenn man auch in Hamburg geboren wurde. Aber ich fühle mich in Hamburg sehr, sehr wohl. Wenn ich von auswärts durch den Elbtunnel fahre, die Hafenkräne sehe, dann habe ich durchaus das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Sie sind und bleiben auch als HWWI-Direktor Professor an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität. Was unterscheidet die Arbeit dort von der an einer zivilen Hochschule?

Berlemann: Der einzige Unterschied ist, dass unsere Studierendenklientel eine andere ist. An der Helmut-Schmidt-Universität lernen ja fast ausschließlich Bundeswehrangehörige. Ansonsten haben wir den Anspruch, genauso zu arbeiten wie an einer zivilen Hochschule.

Wie lief der Bewerbungsprozess für die freie HWWI-Stelle ab? Haben Sie sich klassisch beworben – mit Lebenslauf und Zeugnissen?

Berlemann: Nein, man ist auf mich zugekommen. Ich bin im Spätsommer angesprochen worden, ob ich mir die Direktorenstelle am HWWI prinzipiell vorstellen könnte. Das habe ich bejaht. Wir sind dann in Kontakt geblieben, haben uns weiter ausgetauscht und uns schließlich auf eine Zusammenarbeit geeinigt, worüber ich mich sehr freue.

Ihr Vorgänger Henning Vöpel ist auch deshalb gegangen, weil er sich bei seiner wissenschaftlichen Arbeit von der Handelskammer als HWWI-Gesellschafterin zu sehr eingeschränkt fühlte. Wie wichtig ist Ihnen unabhängige wissenschaftliche Arbeit?

Berlemann: Das ist mir extrem wichtig. Ich bin vom ganzen Herzen her Wissenschaftler. Wenn mir jemand vorgeben wollte, was ich zu forschen hätte und was nicht oder was dabei herauskommen solle, dann würde ich das sofort ablehnen. Ich habe aber keinerlei Bedenken, dass es in diesem Punkt zu Problemen beim HWWI kommen wird.

Wo genau werden Sie die inhaltlichen Schwerpunkte Ihrer Arbeit setzen?

Berlemann: Da der Klimawandel mich wissenschaftlich schon sehr lange beschäftigt und aktuell wohl die größte Herausforderung der Menschheit ist, wird er eines unserer Schwerpunktthemen sein. Auch Hamburg wird vom Klimawandel ja nicht verschont bleiben. Zudem werden wir uns um Migration und Integration kümmern, also die Fragen stellen, wie sich Migrationsströme entwickeln und wie wir die Menschen bei uns integrieren können. Das dritte zentrale Thema ist die räumliche Ökonomik. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie sich Naturkatastrophen oder auch Epidemien kleinräumig auswirken. Bei all diesen Fragen betrachten wir zunächst die internationale Perspektive, brechen sie dann aber fallweise auch auf Hamburg und Norddeutschland herunter. Zudem kümmern wir uns – wie jedes renommierte Wirtschaftsforschungsinstitut – um Konjunktur- und Wachstumsprognosen. Hier wird unser Schwerpunkt zukünftig auf Hamburg und Norddeutschland liegen.

Wann wird es die erste Konjunkturprognose für Hamburg geben?

Berlemann: Da möchte ich jetzt noch keine Vorhersage wagen. Zunächst müssen wir uns als noch sehr kleines Institut neu aufstellen und personell wachsen. Aber im kommenden Jahr könnte ich mir schon eine erste Prognose vorstellen.

Mit 15 Beschäftigten, die das HWWI auf seiner Internetseite ausweist, ist das Institut verglichen mit früheren Zeiten ein Schatten seiner selbst: 2013 waren es mehr als 50 Mitarbeiter, das Vorgängerinstitut HWWA hatte rund 150 Beschäftigte. Wie viel zusätzliches Personal wird benötigt, wenn man – wie angekündigt – die „Wissenschaftlichkeit stärken“ will?

Berlemann: Eine genaue Zahl kann ich jetzt noch nicht nennen. Es sollen auf jeden Fall deutlich mehr Personen werden. Die Helmut-Schmidt-Universität wird uns personell unterstützen. Zudem werden wir von der Handelskammer finanziell besser ausgestattet. Da wir allerdings keine öffentliche Grundförderung vom Staat bekommen - wie zum Beispiel das Kieler Institut für Wirtschaftsforschung oder das Münchner Ifo-Institut - können wir uns mit solchen Schwergewichten auch nicht messen. Wir wollen uns aber dennoch mit fundierten Studien und guten Beiträgen in die aktuellen Diskussionen einmischen. Unser Ziel ist es keinesfalls, klein und unauffällig zu sein.

Und Sie hätten nichts gegen eine öffentliche Grundförderung – zum Beispiel der Stadt Hamburg – einzuwenden?

Berlemann: Selbstverständlich nicht.

Kommen wir zur aktuellen ökonomischen Weltlage: Wie sehr besorgt Sie als Ökonom der Krieg in der Ukraine?

Berlemann: Eines vorweg: Es fällt mir schwer, diesen Krieg mit seinem großen menschlichen Leid nur durch die ökonomische Brille zu sehen. Aber wenn sie mich nur als Ökonom fragen, dann mache ich mir wirtschaftlich schon große Sorgen. Die ersten Auswirkungen auf Deutschland sehen wir ja bereits, wenn wir auf die steigenden Benzin- und Gaspreise schauen. Wie es nun ökonomisch weitergeht, hängt vom Kriegsgeschehen selbst und auch vom politischen Handeln des Westens ab. Seriöse Wachstumsprognosen kann man vor diesem Hintergrund kaum abgeben. Ich bin aber der Meinung: Wenn Deutschland ein Gasembargo plant, dann sollte es sofort stattfinden. Nicht nur müssen wir das Sterben in der Ukraine schnell beenden, wir dürfen Wladimir Putin auch keine Zeit geben, sich an die Situation zu adaptieren. Nach einer erst kürzlich vorgelegten, sehr fundierten Studie von Kollegen würde ein Rohstoff-Embargo zu einem Rückgang des Wirtschaftswachstums hierzulande wahrscheinlich um drei bis vier Prozent führen. Das ist viel, aber Deutschland könnte diesen Rückgang aus meiner Sicht verkraften, wenn wir dies mit einem Hilfspaket für die besonders betroffenen Industrien flankieren.

Die Heizungen in deutschen Wohnzimmern würden also trotz eines Embargos weiter funktionieren?

Berlemann: Ja, sicherlich. Zunächst wäre vor allem die Industrie betroffen.

Die Inflation steuert in Deutschland auf sechs Prozent zu - wie ist Ihre Prognose für das laufende Jahr?

Berlemann: In dem aktuellen wirtschaftlichen Umfeld mit dem Ukraine-Krieg und Corona wäre auch eine konkrete Inflationsprognose unseriös. Aber Fakt ist natürlich: Wenn Güter - wie Gas, Öl oder auch Weizen – knapp werden oder Lieferketten unterbrochen werden, dann steigen die Preise. Ich befürchte, dass wir bei den Inflationsraten Größenordnungen sehen werden, die es lange nicht mehr in Deutschland gegeben hat. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es sich um keine Inflation handelt, die wir durch geldpolitische Maßnahmen wie Zinserhöhungen in den Griff bekommen. Der laute Schrei nach der Europäischen Zentralbank (EZB) hilft uns hier nicht weiter. Denn die aktuelle Inflation entsteht eben durch die Verknappung von Gütern und nicht durch das Anwerfen der Gelddruckmaschine durch den Staat.

Sie sind also gegen eine Zinserhöhung der EZB?

Berlemann: Auf jeden Fall macht so ein Schritt im Kampf gegen die aktuellen Inflationsraten keinen Sinn. Dennoch kann man über die Geldpolitik der EZB schon länger trefflich streiten. Wenn die amerikanische Zentralbank nun die Leitzinsen weiter erhöhen sollte, wird die EZB ohnehin nicht daran vorbeikommen, diesen Schritten zu folgen. Denn ansonsten fließt zu viel Kapital in Richtung USA ab. Und mit Blick auf die Vermögenspreisentwicklung macht es sehr wohl Sinn, dass die EZB die Zinsen erhöht. Denn die Menschen verschulden sich seit langem quasi zinsfrei, kaufen Häuser, Wohnungen und Grundstücke – und dadurch steigen die Preise für Immobilien in einem nicht gesunden Maße. Eines Tages könnte deshalb eine riesige Immobilienpreisblase platzen.

Droht Deutschland womöglich eine Hyperinflation?

Berlemann: Nein. Hyperinflation entsteht, wenn Staaten durch das zügellose Drucken von Geld ihre Ausgaben exzessiv erhöhen. Die aktuelle Inflation ist damit nicht zu vergleichen.

Allerdings zeigt sich der deutsche Staat durchaus spendabel, wenn es um das Mildern von Krisenfolgen für die Bevölkerung geht. Zuerst die großzügigen Corona-Hilfen, nun die Energiepreispauschale und der Kindergeldbonus …

Berlemann: Es stellt sich tatsächlich die Frage, ob wir in Deutschland aus diesem Krisenmodus mal wieder herauskommen. Wir sollten uns nicht daran gewöhnen, dass bei jeder Unwucht der Wirtschaft der Staat als Geldgeber zur Hilfe eilt.

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Angenommen der Krieg ist vorbei und die Pandemie liegt endgültig hinter uns. Was kommt, wenn wir wieder zurück in der alten Normalität sind – der große Preisverfall?

Berlemann: Ein Zurück zur alten Normalität wird es vermutlich nicht geben. Selbst wenn Corona und Ukraine-Krieg hoffentlich bald der Vergangenheit angehören, werden wir nicht so weiter machen können wie früher. Wir werden unsere Wirtschaft neu aufstellen und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen sowie von einzelnen Zulieferbetrieben irgendwo auf der Welt reduzieren müssen. Nicht immer wird die billigste Lösung künftig auch noch die sinnvollste sein.