Hamburg. Julius Gerhardt war ein erfolgreiches Männer-Model. Dann hatte er einen Unfall. 40 Prozent seiner Haut waren verbrannt.

Der Tag, den er Jahre später als Wendepunkt bezeichnet, ist heute in seiner Erinnerung so verblast wie die Narben auf seiner Haut. Julius Gerhardt (26) erinnert sich nicht mehr an den Wochentag oder den Monat, noch nicht einmal mehr an die Jahreszeit, das Wetter. Nur an das Gefühl erinnert er sich. An das Gefühl, dass es ein guter Tag war. Nach vielen schlechten. Weil es endlich wieder besser ging. Weil die Schmerzen nachließen, die Brandwunden verheilten, die Haare nachwuchsen. Und weil er mal wieder bei seinem Agenten war. Nur so, um ein bisschen abzuhängen, zu quatschen.

Nicht, um über Aufträge zu sprechen, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Nicht nach diesem Unfall, den er gehabt hatte. Bei dem 40 Prozent seiner Haut verbrannt waren, im Gesicht, dem Hals, auf dem Oberkörper und dem Arm. Seine Karriere als Model war vorbei, das war klar, damit hatte er sich abgefunden, sogar schon Pläne für die Zukunft gemacht. Was Handwerkliches wollte er machen, eine Lehre beim Tischler oder so. Seine Hände hatten bei dem Unfall nicht so viel abbekommen.

Trotzdem, oder gerade deswegen: An jenem Tag, als sein Leben als Model beendet zu sein schien, ließ Julius Gerhardt noch mal Fotos von sich machen. Nur für seine Akte, die Dokumentation, sagte sein Agent Christian Kleffner. An die Fotos, die er an diesem Tag mit seiner Canon EOS 5D Spiegelreflexkamera machte, kann sich heute keiner der beiden mehr erinnern. Weil damals niemand von ihnen ahnen konnte, was die Aufnahmen für Folgen haben würden. Für sie waren es nichts weiter als ein paar Snapshots, spontane und ungestellte Bilder. Ein kurzer Moment, eingefangen im Foto. Doch dieser eine Moment sollte der Wendepunkt werden, die Zukunft von Julius Gerhardt verändern.

Er gilt als Typ mit Charakter

Es ist ein paar Wochen später, als Modelagent Christian Kleffner eine Anfrage von Prada kommt. Es geht um die neue Winterkollektion. Kleffner weiß, was gefragt ist. Er sucht ein paar Bilder von Models raus und schickt sie per Mail zu Prada nach Mailand. Die E-Mail ist längst weg, als ihm eine Idee kommt, völlig verrückt, total abwegig vermutlich. Aber der Gedanke lässt ihn nicht mehr los. Warum nicht auch Bilder von Julius einreichen. Natürlich, er sah seit dem Unfall nicht mehr aus wie früher, hatte jetzt diese Brandnarben.

Aber da war noch mehr. Julius war noch mehr. Ein Typ mit Charakter, unverwechselbar, total einmalig. Jemand, der heraussticht, den man nicht vergisst. Christian Kleffner entschließt sich spontan, eine zweite Mail an das Hauptbüro und die Castingdirektoren von Prada zu schicken. Mit diesen Bildern von Julius, die er ein paar Wochen zuvor aufgenommen hat. Dann meldet sich Prada. Sie wollen Julius Gerhardt. Exklusiv. Es ist mehr als ein Auftrag. Es ist ein Statement. Dass man an ihn glaubt, auf ihn setzt. Dass alles andere egal ist.

Ein paar Monate später läuft Julius Gerhardt für Prada auf der Mailänder Fashion Week. Es ist einer der wichtigsten Momente in seiner Karriere, in seinem Leben. Das Gefühl unbeschreiblich. Stolz, Erleichterung, Glück. Alles und noch viel mehr. Kaum in Worte zu fassen. Bis heute nicht. Vier Jahre ist das jetzt her. Heute ist Julius Gerhardt eines der weltweit erfolgreichsten Models. Er ist für Prada gelaufen, war auf dem Titel der Vogue, das Gesicht einer internationalen Zara-Kampagne. Trotz der Narben. Oder gerade deswegen.

Zunächst ging es bei Kampagnen um die Narben

Es gab da Kampagnen, zwei oder drei Stück, da ging es um die Narben. Er mit nacktem Oberkörper, gezeichnet vom Unfall. Damals war das für ihn ok, vielleicht sogar eine Bestätigung. Heute will er nicht mehr so wahrgenommen werden. Zumindest nicht nur. „Es geht nicht darum, etwas zu verstecken“, sagt er. Im Gegenteil: „Unsere Makel geben uns Charakter und machen uns individuell“, sagt Julius Gerhardt. Er ist stolz auf seine Narben. Ja, wirklich, stolz. Weil sie ihn zu dem Menschen gemacht haben, der er heute ist.

Früher, sagt er selbst, sei er nichts weiter als ein Kleiderständer gewesen. Total oberflächlich, auf sein Aussehen reduziert. Und irgendwie war das ok, damals. Damals, als alles angefangen hat. 16 war er gerade mal, als er in der Schanze vor einer Bäckerei von Christian Kleffner entdeckt wurde. Mit einem Stück Pizza in der Hand und diesem besonderen Ausdruck im Gesicht. Irgendwas zwischen Arroganz und Aufbegehren. Als er angesprochen wurde, reagierte er befremdet. Er? Modeln? In einer Branche mitmischen, die die Leute kommerziell abzockt, die er verachtet? Ne, echt nicht. Denkt er, zuerst. Dann er denkt an die Möglichkeiten, die Reisen vor allem. Die locken ihn, mehr noch als das Geld. Also willigt er ein, lässt Probeaufnahmen machen. Zu dem Termin nimmt er seine Mutter mit.

Seine Mutter hat ihn immer unterstützt

Seine Mutter hat ihn unterstützt, immer. Bei allem. Sie ist mit ihm zu Castings geflogen, hat in seinen Shows im Publikum gesessen und akzeptiert, dass er irgendwann die Schule abgebrochen hat. In der 11. Klasse. Heute fragt er sich selbst manchmal, was er sich dabei gedacht hat, aber damals stellt sich die Frage nicht. Damals sehnt er sich nach Freiheit, Flexibilität. Der Möglichkeit, jeden Job annehmen zu können, ohne auf die Schule Rücksicht nehmen zu können.

Manchmal, wenn Julius Gerhardt eine Frage beantwortet, fertigt er ganze Stationen in seinem Lebenslauf in wenigen Sätzen, fast schon Stichworten ab. Schulabbruch, in der 11. Klasse, die erste eigene Wohnung kurz danach, seine Kampagnen für Benetton und Yves Saint Laurent. Das Cover für die Vogue. Jahre, zusammengefasst in wenigen Minuten. Doch manchmal gibt es auch jene Momente, in denen er nicht einfach nur Antworten gibt, einen Punkt abhakt. Sondern in denen er erzählt, ausholt, beschreibt. In denen er mit den Händen gestikuliert und den Raum mit seinen Worten einnimmt. So ein Moment ist, wenn er über die Kunst spricht, seine Kunst. Für ihn ist es mehr als ein Hobby, mehr als eine Laune. Es ist eine Art, seine Art, sich auszudrücken. Intensiver und leichter, als er es mit Worten kann.

Er hat das schon immer gemacht. Kunst, mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Mit Öl, Aquarell-Farben, schwarzen Stiften, Farbdosen. Es gab Zeiten, da war er für die Leute der Graffiti-Sprayer. So, wie er dann das Model war. Oder der mit den Narben. Er kennt es, in ein Schema gepresst zu werden, auf einzelne Merkmale reduziert zu werden. Doch daran gewöhnt hat er sich nicht. „Für mich waren Graffitis immer nur ein Teil meiner Kunst“, sagt Julius Gerhardt. Mit 13 hat er damit angefangen.

Irgendwann will er von seiner Kunst leben

Zuerst zu Hause im Keller, dann draußen. Auf Hauswänden, Zügen. Illegal. „Doch darum ging es nicht, nie. Es ging nie um den Reiz des Verbotenen, nie um den Kick. Es ging einfach nur ums Malen.“ Um diese riesigen leeren Flächen, die unbegrenzten Möglichkeiten. Jede eine Chance, sich auszudrücken. Noch größer und intensiver. „Das Modeln war immer nur ein Job, eine Möglichkeit zu reisen und Geld zu verdienen“, sagt er. Aber die Kunst war und ist mehr. Bis heute. Sein Lebensinhalt.

Irgendwann, davon träumt er, will er von seiner Kunst leben können. Seit er 16 ist, hat er immer wieder Bilder verkauft, ein paar Aufträge als Grafikdesigner übernommen. Vor fünf oder sechs Jahren fing dann das mit den Klamotten an. Zuerst hat er nur ein paar weiße T-Shirts gekauft und sie mit eigenen Designs bedruckt. Heute entwirft und produziert Julius Gerhardt Hoodies. Kapuzenpullover mit besonderen Schnitten. Hochwertig, edel und teuer. High Street Fashion nennt er das. Ein Gewerbe hat er bereits angemeldet, die ersten Teile verkauft. 250 Euro kostet ein Hoodie.

Manchmal denken die Leute, dass sein Leben in zwei Abschnitte unterteilt ist. Vor dem Unfall und nach dem Unfall. Doch er selbst hat das nie so empfunden. Vielleicht, weil vieles wieder so ist wie vorher. Wieder – und immer noch. Denn mit dem Zeichnen, so kommt es ihm vor, hat er eigentlich nie aufgehört. Selbst im Krankenhaus nicht, oder gerade dort nicht. Die Erinnerungen an die Zeit sind verschwommen, doch an eine Sache kann er sich genau erinnern. Wie er die Krankenschwester um einen Stift bittet und zu zeichnen beginnt. Muster, Linien. Irgendetwas, egal. Es lenkt ihn ab, hilft bei der Regeneration. Am Anfang malt er mit links, die rechte Hand kann er in den ersten Wochen nicht gebrauchen.

Er wird vom Zug geschleudert

Er spricht nicht gerne darüber. Nicht, weil es ihn belastet, wirklich nicht. Sondern weil es ein Teil seiner Vergangenheit ist, weil er damit abgeschlossen hat. Es gibt Tage, da kann er sich noch nicht mal mehr an das Jahr erinnern, in dem es passiert ist. Vor vier oder fünf Jahre? Er weiß es nicht, muss nachgucken. 2013 war es. Er weiß nur noch, dass es Halloween war und die Kinder verkleidet durch die Straßen gerannt sind. Er ist mit zwei Freunden unterwegs, will Malen, wie er es nennt, und meint: Graffitis sprayen.

Er will eine Brücke besprühen, klettert auf einen darunter stehenden Güterzug, in der Nähe eines Hochspannungsmastes. Weit genug weg, denkt er. Von Lichtbögen hat er noch nie gehört. Als er den Arm mit der Sprühdose hebt, wird das Metall zur Antenne. Der Strom wird durch die Luft geleitet, in seinen Körper. Durch den Arm, über den Oberkörper, hinunter in den Fuß. Am rechten Zeh tritt der Strom wieder aus. 15.000 Volt. Julius Gerhardt wird vom Zug geschleudert. Ob vom Schlag oder vor Schreck, das weiß er nicht. Er weiß nur, dass er trotz allem irgendwie Glück gehabt hat. „Wäre ich länger mit dem Strom verbunden gewesen, dann wäre von mir nur ein Häufchen Asche übrig geblieben“, sagt er.

60 Tage lang liegt er auf der Intensivstation

Das hat man ihm irgendwann später gesagt. Im Krankenhaus Boberg. 60 Tage lang liegt er auf der Intensivstation, schwebt tagelang in Lebensgefahr. 40 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Er sagt, dass er die Zeit nur dank der Ärzte und Pfleger überstanden hat, die heldenhaft waren. Und dank seiner damaligen Freundin und seiner Familie. Als es ihm besser geht, guckt er sich im Internet Videos von Lichtbögen an.

Mehr gibt es nicht zu sagen, findet er und beendet das Thema. Für ihn ist die Sache abgeschlossen. Seine Entscheidung! War schon damals im Krankenhaus so, als er eines Tages einfach aufgestanden ist und das Krankenhaus verlassen hat. Gegen ärztlichen Rat. „Sonst wäre ich da verrückt geworden“, sagt er. Aber ein bisschen verrückt, meint er, sei er trotzdem. So verrückt, dass er damals alleine die Medikamente absetzt, auf eine Reha verzichtet. „Ich hatte das Gefühl, selbst am besten zu wissen, was mein Körper braucht – und was nicht“, sagt Julius Gerhardt. Er trägt Baseballcap, Kapuzenpullover, Jeans, Socken. Die Schuhe hat er vor der Tür ausgezogen. Der Pullover ist aus seiner Kollektion, den mag er am liebsten. Inspiriert von traditioneller chinesischer Kleidung, Pariser Mode und seinem eigenen Skater Look. Sogar ein paar Kollegen aus der Modebranche haben ihn schon auf die Klamotten angesprochen.

Seine Gage liegt aktuell bei 3500 Euro pro Job

Er ist gut im Geschäft, wird gerade viel gebucht. Seine Gage liegt aktuell bei 3500 Euro pro Job. Dafür arbeitet er einen bis fünf Tage. Er bekommt mehr als die meisten anderen, er hat inzwischen einen Namen in der Branche. Es ist eine Branche, die sich im Wandel befindet. Die auf Typen setzt, die sich von der Masse abheben. Ungewöhnlich sind, einzigartig. Diversität statt Uniformität. Was früher undenkbar war ist heute gefragt. Models mit Merkmalen. Zahnlücken, Sommersprossen, Transgender, Pigmentstörungen oder Prothesen.

Das Hamburger Model Mario Galla sorgte für Aufsehen, als er auf einer Modenschau in kurzer Hose lief – und mit Beinprothese. Galla wurde einst von Christian Kleffner entdeckt. So wie Julius. Der Modelagent hat mal gesagt, dass Julius ein Held sei. Der sich zurückgekämpft habe. Julius Gerhardt sieht sich nicht so. Ihm sind die ganzen Bezeichnungen zu eindimensional. Zu einfach. Weil sie sich auf ein Merkmal von ihm konzentrieren, ihn auf eine Sache reduzieren, nie das Ganze erfassen. Das Model, der Künstler, der Held. Irgendwie möchte er einfach nur Julius sein. Mit allem, was dazugehört.

Nächsten Sonnabend: Vom Unilever-Manager zum Gründer einer Müsli-Manufaktur, in der psychisch Kranke, Obdachlose und ehemalige Inhaftierte einen Job bekommen.