Hamburg. Hamburg verliert seinen Topökonomen. Im Interview spricht er über seinen Weggang – und gibt der Hansestadt einen Rat.
Zum 1. Juli wird Henning Vöpel (48) das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut HWWI überraschend auf eigenen Wunsch verlassen und im Oktober Direktor am Centrum für Europäische Politik (cep). Dies wurde am Montagnachmittag bekannt.
Nach Abendblatt-Informationen soll es in den vergangenen Monaten eine verstärkte Einflussnahme der Handelskammer auf die Arbeit Vöpels und seines Teams gegeben haben. Die Handelskammer ist alleinige Gesellschafterin des HWWI. Dies habe dem renommierten und angesehenen Ökonomen missfallen, heißt es aus dem HWWI-Umfeld. Er selbst wollte sich im Abendblatt nicht dazu äußern, spricht stattdessen von einer neuen, großen Herausforderung in Berlin.
Vöpel spricht über Abschied vom Hamburger HWWI
Vöpel war seit 2006 im HWWI tätig, in den vergangenen gut fünf Jahren als Direktor. Vöpels Aufgaben übernimmt bis auf weiteres sein Co-Geschäftsführer Dirck Süß, bis eine langfristige Lösung gefunden worden ist. Kammer-Präses Norbert Aust bedauerte in einer ersten schriftlichen Stellungnahme Vöpels Entschluss, in die Hauptstadt zu wechseln.
Im großen letzten Abendblatt-Interview als HWWI-Chef spricht der 48-jährige kurz über den Wechsel in die Hauptstadt, ordnet die großen Themen Inflation, Geldpolitik sowie die Corona-Krise ein und erklärt dann, was Hamburg ändern muss, um nach der Pandemie ökonomisch erfolgreich zu sein.
Hamburger Abendblatt: Sie verlassen überraschend bereits in wenigen Tagen das HWWI, gehen nach Berlin. Warum?
Henning Vöpel: Ich bekomme beim cep in Berlin die Chance, eine neue Denkfabrik für Europa aufzubauen. Dabei wird es darum gehen, Ideen zu entwickeln, nach welchen Ordnungsprinzipien wir das Europa der Zukunft gestalten wollen. Das ist gerade jetzt mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen Europa steht, eine extrem faszinierende Aufgabe. Deshalb der Wechsel.
Das heißt, Sie werden Hamburg komplett den Rücken zuwenden?
Henning Vöpel: Nein, ich bleibe aus privaten Gründen in Hamburg wohnen, werde dann aber an mehreren Tagen in der Woche in Berlin und Brüssel sein.
Kommen wir zu Strafzinsen, Inflation und anderen Themen, die die Hamburger aktuell bewegen: Wie legt der Direktor des HWWI in Zeiten von Strafzinsen und steigenden Preisen sein Geld an?
Henning Vöpel: Ich setze auf die klassische Mischung: Staatsanleihen, dazu Aktien und Fonds, vor allem Nachhaltigkeits- und Technologiewerte. Ohne ein wenig Risiko gibt es derzeit eben keine Rendite.
Die Bundesbürger bekommen nicht nur keine Zinsen mehr auf ihr Erspartes, die Inflation frisst darüber hinaus auch noch den Wert des Geldes auf. Auf 2,5 Prozent ist die Inflationsrate in Deutschland im Mai gestiegen. Müssen wir uns auf eine längere Phase höherer Inflationsraten einstellen?
Vöpel: Davon gehe ich nicht aus. Die aktuell höhere Inflation ist auf Sonderfaktoren zurückzuführen, vor allem auf gestiegene Rohstoffpreise und Frachtraten sowie die Rückkehr zum alten Mehrwertsteuersatz. Hinzu kommen aufgestaute Nachholeffekte beim Konsum nach den langen Lockdown-Phasen. Wahrscheinlich wird die Inflationsrate im vierten Quartal aus diesen Gründen bundesweit sogar noch weiter auf 3 bis 3,5 Prozent zulegen. Für das kommende Jahr erwarte ich aber, dass die Sonderfaktoren an Einfluss verlieren und die Inflationsrate sich bei 1,5 bis 2 Prozent einpendeln dürfte.
Müsste die Europäische Zentralbank nicht jetzt schon reagieren und die Zinsen zumindest leicht anheben?
Vöpel: Noch besteht keine unmittelbare Notwendigkeit dafür. Eine leichte Überhitzung kann sogar sinnvoll sein, um die Krise vollständig zu überwinden. Zu früh zu bremsen, wäre nicht gut. Zudem darf man nicht vergessen, dass die Refinanzierungsbedingungen für Staatsschulden seit vielen Jahren sehr günstig sind. Gerade viele Euro-Staaten würden von plötzlich steigenden Zinsen hart getroffen. Eine Zinswende birgt also Risiken. Dennoch muss die EZB aufpassen, dass sie nicht den richtigen Zeitpunkt zum Eingreifen verpasst, sollte die Inflation doch aus dem Ruder laufen. Historische Inflationsprozesse zeigen, dass man aufmerksam bleiben sollte.
Ist die EZB denn überhaupt noch bei ihren Entscheidungen politisch unabhängig?
Vöpel: Das ist eine gute Frage. Noch handelt die EZB aus meiner Sicht richtig, weil die Preissteigerungen vorübergehend sind. Allerdings könnte es irgendwann zu einer echten Inflation kommen. Dann wird sich zeigen, ob die EZB vor allem das Ziel der Geldwertstabilität verfolgt oder von den Regierungen der verschuldeten Staaten in der Eurozone unter Druck gesetzt wird. Ich habe schon den Eindruck, dass die EZB mit ihrer Präsidentin Christine Lagarde deutlich politischer kommuniziert als unter ihrem Vorgänger Mario Draghi.
Kommen wir zur Pandemie und dem Handeln der Politik – welche Zeugnisnote bekommen Bundesregierung und Hamburger Senat vom Volkswirt Henning Vöpel für ihre Corona-Politik?
Vöpel: Am Anfang würde ich die Politik mit gut bewerten. Die Regierungen haben stabilisierend eingegriffen, indem sie zugesagt haben, alles zu unternehmen, um die Krise zu bekämpfen. Das hat für Vertrauen in der Bevölkerung und speziell in der Wirtschaft gesorgt. So konnten panische Reaktionen vermieden werden. Der anschließenden Politik würde ich nur noch eine 4 bis 5 als Schulnote geben. Zum einen hat man versäumt, die finanziellen Hilfen so zu gestalten, dass diese auch zielgenau ankommen. Es ist viel zu viel Geld ausgegeben worden. Zum anderen haben kluge Konzepte gefehlt, mit denen man die ökonomischen und sozialen Kosten der Krise hätte reduzieren können. Zum Beispiel in den Schulen oder im Einzelhandel.
Was meinen Sie konkret?
Vöpel: Tests hätten schneller flächendeckend eingesetzt und Daten über das Infektionsgeschehen besser genutzt werden müssen. Der Einzelhandel hätte mit intelligenten Konzepten eher geöffnet werden können. Zum Beispiel, indem man ältere, gesundheitlich stärker gefährdete Konsumenten vormittags und die anderen nachmittags zum Einkaufen zugelassen hätte. Auch ein innovativerer Schulunterricht wäre möglich gewesen. Und wenn es wenigstens Sport im Freien oder Biologieunterricht im Wald gewesen wäre, um sich mal zu sehen. Hier gab es unnötig hohe Kollateralschäden.
Weite Teile der Wirtschaft fassen langsam wieder Tritt. Wie lange wird es dauern, bis Deutschland ökonomisch wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht haben wird?
Vöpel: Ohne weitere Rückschläge könnte das Mitte 2022 der Fall sein. Die Welt nach Corona wird aber eine andere sein, und auch die Wirtschaft wird sich verändern – mit neuen Strukturen und einem veränderten Konsumentenverhalten.
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Wie wird sich Hamburgs Wirtschaft mit Blick auf einzelne Branchen und Sektoren nach Corona wandeln? Wer werden die Gewinner, wer die Verlierer sein?
Vöpel: Das ist primär keine Frage der Branche, sondern der Transformationsbereitschaft. Diejenigen, die den Strukturwandel jetzt konsequent angehen, werden zu den Gewinnern gehören. Wer am Alten festhält, wird zu den Verlierern zählen. So kann ein stationärer Händler mit innovativen Onlineangeboten sehr wohl erfolgreich sein. Ein Geschäft, das sich der Onlinewelt verweigert, hat dagegen keine Chance in der Welt nach Corona. Auch die Hamburger Innenstadt müssen wir diesbezüglich neu denken. Es ist nicht mehr die Zeit, auf fünf Etagen Kleidung und Elektronikartikel zu stapeln. Es ist Zeit für neue Entwürfe und Ideen, auch bei der Innenstadtgestaltung.
Was heißt das konkret?
Vöpel: Wir müssen jetzt damit anfangen, Hamburgs Innenstadt so umzubauen, dass sie 2030 attraktiv und lebensfähig ist. Die Politik muss den großen Wurf wagen. Shopping allein ist nicht die Zukunft der Innenstädte. Wir brauchen mehr Kultur, Sportstätten, Wohnraum in der City. Die Politik muss künftig noch stärker auf die Nutzung von Flächen Einfluss nehmen. Sie muss für attraktive Plätze sorgen, auf denen man gerne verweilt, die Anziehungspunkt für das gesellschaftliche, kulturelle Leben werden.
Sollte die Stadt auch Grundstücke und Immobilien von privaten Investoren kaufen, um Ideen zu verwirklichen?
Vöpel: Ja, denn wenn es darum geht, das Gefüge einer Stadt grundlegend zu transformieren, ihre Infrastruktur und Funktionen, dann braucht es mehr als private Investoren. Größere Veränderungen gelingen nur in größeren Zusammenhängen. Deshalb braucht es jetzt eine neue Vision von der Stadt der Zukunft und dem Leben in ihr. Hier hat die Stadt in der letzten Zeit bereits einiges versäumt.
Inwiefern?
Vöpel: Ich glaube, Hamburg war nicht mutig genug, wirklich neu zu denken. Darin läge aber gerade jetzt eine große Chance für die Stadt. Denn letztlich muss es aus ökonomischer Sicht darum gehen, vor allem Talente, junge Gründer für Hamburg und die Chancen hier zu begeistern. Für die aber gibt es kaum Gründe, nach Hamburg zu kommen, weder mit Blick auf die Kultur noch die Wissenschaft oder die Wirtschaft. Hier muss Hamburg strukturell attraktiver für internationale Talente werden.
Wie?
Vöpel: Hamburg braucht einen Quantensprung. Wohlstand entscheidet sich über neue Technologien und ein innovatives Umfeld. Wissen zieht Wissen an. Warum nicht Europas Vorreiter in grüner Technologie, Life-Science und Biotechnologie werden und Ansiedlungsprogramme für innovative Firmen und Start-ups auflegen? Warum bietet die Stadt internationalen Toptalenten nicht an, für fünf Euro pro Quadratmeter in Hamburg wohnen und arbeiten zu können? Ich bin davon überzeugt, dass man jetzt, da die Welt sich verändert, noch deutlicher die Weichen für die Zukunft stellen muss.