Hamburg. Viele Menschen finden sich in den Kampagnen kaum noch wieder. Der Hamburger Soziologe Oliver Errichiello veröffentlicht Buch zum Thema.
Wer den Wertewandel verstehen will, muss sich die Werbung anschauen: Bis tief in die 80er-Jahre waren die Rollenmodelle festgefügt – Klementine und Meister Proper halfen der emsigen Hausfrau, der kreuzbrave und superseriöse Herr Kaiser verkaufte Vati die Versicherung. Das klingt nicht nur nach einem anderen Jahrtausend, das war ein anderes Jahrtausend.
Doch auch Werbung, die erst 15 Jahre alt ist, wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Auf dem Prospekt warb einst ein junges blondes Paar für die Deutsche Bank. Klingt jetzt ziemlich langweilig – und doch ist das Bild frappierend. Denn heute wäre eine solche Werbung fast undenkbar, für manche woke Gesellen wahrscheinlich rechts. Wer sich heute umschaut, sieht ein neues Deutschland. Egal ob es um Waschpulver oder die Wertanlage, um Sportwagen oder Sportschuhe geht, Hauptsache ist: Es muss divers sein, alle Hautfarben, alle Geschlechter, alle Religionen, alle Lebensstile müssen rein.
Die Gesellschaft ist bunter geworden – aber treiben es die Werbeagenturen zu bunt?
Dagegen ist nichts zu sagen. Die Gesellschaft ist bunter geworden, die Werbung bildet das nur ab. Oder?
Oliver Errichiello, Professor für Markensoziologie und Werbeexperte, hat da seine Zweifel: Gerade hat der Hamburger sein Buch „Werbung für den Zeitgeist. Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren“ veröffentlicht. Er sagt im Gespräch mit dem Abendblatt: „Mit welchem Recht nehmen sich Werber eigentlich heraus, politische und weltanschauliche Positionen zu besetzen? Die Menschen reagieren befremdet darauf, dass inzwischen Weltanschauungen geradezu aufgezwungen werden.“
Selbst der Toilettenreiniger muss die Welt retten
Penny will den Riss in der Gesellschaft kitten, Krombacher rettet den Regenwald, Gillette zeigt den neuen Mann, und Mastercard – ausgerechnet – verspricht eine „World beyond cash“. Dieses Dauerfeuer prägt Gesellschaft: Rund 3000 Werbebotschaften prasseln tagtäglich auf die Bürger ein. „Den Werbern ist gar nicht bewusst, welche Macht sie haben“, sagt der Deutschitaliener.
Er beschreibt drei Phasen der Werbung: „Es hat sich viel verändert: Früher haben wir uns über die 50er-Jahre gewundert, heute schon über zehn Jahre alte Werbung. Sieht man diese dann, wähnt man sich auf einem anderen Planeten.“
Er hat sich intensiv mit Reklame befasst und ganze Jahrgänge der Zeitschrift „Stern“ analysiert. Bis in die 70er-/80er-Jahre erzählen die Unternehmen von den Leistungen und ihren Produkten.
Binnen weniger Jahre hat sich die Werbung komplett gedreht
Danach setzt eine Emotionalisierung ein. „Menschen sollten ein Gefühl kaufen – statt der technischen Leistungen stand dann beispielsweise Fahrfreude in Mittelpunkt.“ Spätestens seit 2010/2012, auch im Nachgang der Finanzkrise, ging es um einen „bewussten Kapitalismus“. „Menschen kaufen nicht Produkte, sondern wollen mit ihnen einen Sinn verbinden, etwas Gutes tun.“
Das Ergebnis: Selbst Discounter zeigen kaum noch Produkte, sondern lieber die Regenbogenfahne. „Unter Weltverbesserung macht es noch nicht einmal mehr ein Toilettenreiniger oder ein Müsli“, sagt Errichiello. „Werbung hat sich massiv politisiert und transportiert einen Zeitgeist.“
„Diese schöne neue Werbewelt hat nichts mehr mit dem normalen Leben zu tun“
Die meisten dieser Botschaften teilt Errichiello, der sich in seinem Stadtteil Bergstedt für die SPD politisch engagierte. Er fürchtet aber, dass die Wirkung nach hinten losgeht.
„Viele Menschen reagierten irritiert und fragen sich, was A mit B zu tun hat. Diese schöne neue Werbewelt hat nichts mehr mit dem normalen Leben zu tun.“ Er sieht soziologische Dynamiken am Werk. „Dahinter steckt kein böser Masterplan, sondern die Weltsicht der Branche.“
Werbe- und Kommunikationsprofis leben mehrheitlich in Großstädten, sind kosmopolitisch, jung, gut gebildet und Besserverdiener. „Sie transportieren ihr idealtypisches Bild von der Welt. Das Problem: Diese Welt hat wenig mit dem Leben der anderen 70 Prozent zu tun.“
Und das spüren diese 70 Prozent. „Normale Menschen mit ihren bescheidenen Lebenszielen und Freuden werden zu einem anstrengenden Lumpenproletariat von Freaks und Clowns stigmatisiert“, schreibt Errichiello in seinem hoch spannenden Buch.
Boris Palmer löste mit seiner Kritik einen Shitstorm aus
Schlimmer noch: Werbung umschmeichelt die Menschen nicht mehr, sie wirkt wie modernes Agitprop zur Volkserziehung. Und funktioniert kaum noch. „Gutes Handeln ist Tat und keine Absicht“, sagt Errichiello. Wenn die Bahn auf ein buntes Deutschland in ihrer Kampagne setze, gehe das nach hinten los. „Da die Deutsche Bahn ihre eigentliche Leistung, pünktlich und zuverlässig Reisende von A nach B zu bringen, nicht hinbekommt, wählt sie Scheininhalte wie Toleranz.“
Das aber verbessere weder die Leistung der Bahn, noch mache es das Land toleranter. Im Gegenteil: „Es wird suggeriert, alles sei auf dem richtigen Weg und in Ordnung und verhindert so eine wirkliche, vielleicht auch schmerzhafte Auseinandersetzung und Veränderung.“
Darauf hatte 2019 schon Boris Palmer, Tübinger Bürgermeister und Ex-Grünen-Politiker, hingewiesen und einen seiner vielen Stürme des Unmuts geerntet. „Ich finde es nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Deutsche Bahn die Personen auf dieser Eingangsseite ausgewählt hat“, schrieb Palmer. „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“
Die Deutsche Bahn keilte zurück: „Herr Palmer hat offenbar zum wiederholten Male Probleme mit einer offenen und bunten Gesellschaft“, sagte ein Sprecher der Bahn. „Solch eine Haltung lehnen wir ab.“
Errichiello sieht Werbung und Polit-PR verschwimmen
Längst verschwimmen die Sphären von Politik und Werbung. Seit den Tagen von Tony Blair und Bill Clinton ist Wahlkampf vor allem PR: Werber gestalten die Botschaften der Politik: „Das Milieu wirkt in die politische Kommunikation hinein, obwohl sie nicht zum Kern der Partei gehören“, sagt Errichiello.
Mitunter wirkt das dann aufgesetzt bis bizarr – etwa wenn Armin Laschet zu gendern beginnt oder Olaf Scholz sich plötzlich als „intersektionaler Feminist“ beschreibt. So wie Kampagnenprofis Politiker und Parteien inszenieren, so politisch wird die Werbung.
Besonders deutlich wurde dies bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar. Über Jahre interessierten die menschenverachtenden Bedingungen beim Bau der Stadien nur am Rande, kurz vor dem Turnier aber überlagerten die fehlenden Rechte der Homosexuellen alles andere – inklusive den Fußball: „Das war ein Phänomen, das so nur in Deutschland stattfand, wo die mediale Aufregung groß war: Irgendwann setzt aber ein Überdruss ein.“
Längst würden massenmedial Themen moralisch-ethisch aufgeladen. „Dagegen darf man dann nicht mehr sein. Dabei muss der, der den Regenbogen oder die One-Love-Binde ablehnt, doch nichts gegen Schwule haben.“
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Der Wirtschaftssoziologe konstatiert, dass eine Meinungselite zu wissen glaubt, was „richtig für das Volk ist“. Er sieht einen Effekt, der das Gegenteil erreichen kann. „Die Botschaft ist zu oft: Jetzt glaubt das doch endlich! Indem ich immer aber lauter schreie, werde ich das Problem nicht lösen. Vielmehr sollte die Werbebranche nicht nur ‚Diversität‘ predigen, sondern selbst in Hinblick auf Alter, Lebenserfahrungen und auch Weltanschauungen diverser werden.“
Oliver Errichiello: „Werbung für den Zeitgeist. Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren“, Langen-Müller, 240 Seiten, 22 Euro