Eine kleine Großstadt, die ihr Wachstum im unaufhörlichen Wandel sucht

"In der Nähe einer mitteldeutschen Stadt, mit der Bahn in zwanzig Minuten zu erreichen, lag das Villendorf." So sollte ein Roman beginnen, doch Detlev von Liliencron, aus dessen Feder die Zeilen flossen, kam nicht weit über diese ersten Worte des ersten Kapitels hinaus. Am 22. Juli 1909 starb er 65-jährig in Altrahlstedt. In jenem Villendorf, in das er acht Jahre zuvor gezogen war, in dem er sich wohl gefühlt und das er beim Schreiben seines letzten Romanbeginns vor Augen gehabt hatte.

Die Bahn aus der Hamburger Innenstadt ist heute fünf Minuten schneller als vor 103 Jahren. Wer, Liliencrons Worte im Sinn, aussteigt, muss sich dennoch wundern. Da ist kaum eine einzige Villa zu sehen. Und von einem Dorf kann nicht die Rede sein. Rahlstedt, mit knapp 87 000 Einwohnern Hamburgs bevölkerungsreichster Stadtteil, hat beinahe Großstadtdimensionen angenommen. Dafür bietet der Ort heute auch viele Vorzüge einer größeren Stadt: mehr als ein Dutzend Schulen, darunter drei Gymnasien. Viele Kindertagesstätten. Und eine Geschäftswelt, deren Angebot weit über den täglichen Bedarf hinausgeht.

+++ Kurz & knapp +++

+++ Zahlen & Fakten +++

+++ Name & Geschichte +++

+++ Bekannte Söhne +++

Vorrang für den Einzelhandel

Moderne Geschäftshäuser säumen die beiden Haupteinkaufsstraßen - die Rahlstedter Bahnhofstraße und die Schweriner Straße -, die eine L-förmige Fußgängerzone bilden. Mittendrin thronen die Rahlstedt Arcaden, eine überdachte Einkaufswelt auf zwei Ebenen. Wandel und Wachstum prägen Rahlstedt bis heute. Allerdings haben sie dem Stadtteil nie wieder so gut gestanden wie zu Detlev von Liliencrons Zeiten.

Damals entstand die Anlage des Ortskerns in seiner heutigen Form. Der Fabrikant Cord Eduard Heinrich Grube hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit anderen Geschäftsleuten erfolgreich für den Bau eines Bahnhofs an der Strecke von Hamburg nach Lübeck eingesetzt. Das Zentrum verlagerte sich daraufhin weg von der Feldsteinkirche, die 1248 erstmals urkundlich erwähnt worden war, hin zu diesem neuen Bahnhof. Mit den Zügen kamen die Tagesausflügler, mit dem Tourismus entstanden Lokale, Pensionen und Biergärten. Zeitgleich entdeckten wohlhabende Hamburger die Vorzüge des noch relativ günstigen Baulandes, sodass in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts riesige Neubaugebiete mit herrschaftlichen Häusern entstanden.

Jahrzehntelang bestimmten Villen auch das Bild des Ortskerns. Doch mit den Jahren begannen ihre Fassaden zu bröckeln. In den 70er-Jahren wurde der Verfall unübersehbar. Aus heutiger Sicht hätte der Bausubstanz vielleicht ein bisschen Pflege gutgetan. Aber die Rahlstedter hatten andere Pläne: das Einkaufszentrum. Im November 1983 wurde die neue, überdachte Shoppingwelt eingeweiht, die einen Hauch von großstädtischem Flair in den Vorort zu bringen verhieß. Und viele waren begeistert, obwohl - oder weil - dieser Bau ein ganzes Quartier von Grund auf verändert hatte. Der Abriss alter Häuser setze sich in den folgenden Jahren fort, die Liste ist lang.

Zuletzt fiel Anfang 2010 das traditionsreiche Hotel Hameister, Anfang 2012 schließlich das Bahnhofsgebäude. Rahlstedt schafft Platz für noch mehr moderne Geschäftshäuser.

Villen und Hochhäuser

Ein wenig abseits des Zentrums scheint dagegen die Zeit stillzustehen. In ganzen Vierteln stehen die prächtigen Villen aus der vorvergangenen Jahrhundertwende noch in einer Häufung, die für einen an sich eher unauffälligen Hamburger Stadtteil außergewöhnlich ist. Rahlstedts allerschönste Seite! Ein klassisches Pflaster für Wohlhabende ist der Stadtteil dennoch nicht. Reich und weniger reich liegen ganz dicht beieinander. Wo ein Straßenzug mit Villen endet, ist das nächste Hochhausviertel nicht weit. Großlohe zum Beispiel. Die in den 60er-Jahren von staatlichen Wohnungsbauträgern am äußersten Stadtrand hochgezogene Siedlung hatte von Anbeginn mit ihrem Ruf als sozialer Brennpunkt zu kämpfen und trug maßgeblich zu einem eher schlechten Image Rahlstedts bei. Inzwischen tut sich viel in diesem und in anderen Quartieren. Die Saga-GWG, der beinahe 2000 Wohnungen in Großlohe gehören, hat in den vergangenen Jahren mehr als 60 Millionen Euro investiert, um die Bausubstanz durchzusanieren. Mit Erfolg: Die Häuser sehen heute gepflegter und einladender aus als noch vor einigen Jahren. Wie sehr sich der Ruf des einstigen Problemviertels zm Positiven gewandelt hat, beweist das Engagement eines privaten Bauträgers, der unter dem Namen "Waldpark Großlohe" neue Reihenhäuser anpreist - das 100-Quadratmeter-Scheibchen für 315 000 Euro aufwärts.


Die letzten Bauernhöfe

Ein drittes Gesicht Rahlstedts, das älteste, muss man heute gezielt suchen. Aber hier und da zeigt es sich noch: Alte Bauernhöfe, letzte Zeugnisse einer jahrhundertelangen landwirtschaftlichen Tradition. Der Rahlstedter Dorfplatz, historisches Zentrum Neurahlstedts, ist nahezu unverändert erhalten. Ein Dorf inmitten von Wohngebieten.

+++ Der Stadtteil-Pate: Alexander Sulanke +++

Die Folgen der Bundeswehrreform

Jahrzehntelang war das Militär allgegenwärtig in Rahlstedt, marschierten Kompanien von Soldaten durch die Straßen, lag in klaren Nächten das Dröhnen der Panzermotoren in der Luft. Die Zäsur kam 1993: Die Bundeswehr zog sich aus den beiden in den 30er-Jahren gebauten Kasernen zurück, die Blocks wurden mit wenigen Ausnahmen abgerissen. Auf dem Gelände der Boehn-Kaserne an der Timmendorfer Straße bewiesen Stadtplaner mit dem Neubaugebiet Rahlstedter Höhe, dass massiver Geschosswohnungsbau sehr ansprechend aussehen kann. Auf dem Areal der Graf-Goltz-Kaserne an der Sieker Landstraße ist das Quartier Boltwiesen mit Mehrfamilien- und Reihenhäusern entstanden - Wohnraum, den insbesondere junge Familien zu schätzen wissen.

Die alte Panzerstraße ist noch erhalten. Die Betonpiste führt heute durch ein Gewerbegebiet hindurch hinaus auf den früheren Truppenübungsplatz Höltigbaum.

Das rund 550 Hektar große Gelände, das zur Hälfte in Schleswig-Holstein liegt, ist ein Naturschutzgebiet geworden - und der Rückzugsort für Rahlstedter, die ins Grüne wollen. Spaziergänger wissen das Gelände ebenso zu schätzen wie Radfahrer und Inlineskater. Am Ende der Straße Eichberg ist das Haus der Wilden Weiden entstanden, ein Informationszentrum für den Höltigbaum. Besucher können sich dort auch über die sogenannte halboffene Weidelandschaft informieren: Auf dem Höltigbaum weiden das ganze Jahr über Rinder und Heidschnucken, die dafür sorgen, dass die Landschaft nicht zuwuchert. Auch hier ist Rahlstedt immer noch ganz Dorf.

In der nächsten Folge am 2.4.: Rönneburg