Eine Ausstellung informiert über den Wandel des Wensenbalken in Volksdorf. Der Pensionär Koegel erforscht ihre teils braune Geschichte.
Es gibt Menschen, die leben in einer Siedlung, und es gibt andere wie Jens Koegel, die leben mit ihrer Siedlung. In diesem Fall liegt die in Volksdorf und erstreckt sich von Wensenbalken über den Lottbeker Platz bis hin zum Volksdorfer Grenzweg. Der pensionierte Lehrer hat die Geschichte der Siedlung erforscht, ein Buch über sie geschrieben, eine Webseite eingerichtet und bereitet zurzeit eine Ausstellung über Wensenbalken vor, die ab dem 19. Dezember im Bezirksamt Wandsbek zu sehen ist.
Bei einem Treffen in seinem Haus, das er nach Auszug der beiden Töchter mit seiner Frau allein bewohnt, wird deutlich: Der 76-Jährige macht sich Gedanken über die Zukunft der Siedlung.
Seit 1990 lebt das Paar in einem der ältesten Häuser der Siedlung, die 1923 entstand. Die Koegels sind also „Zugereiste“. Als Zugereiste bezeichneten sich damals auch die Wensenbalker, die in den ersten Nachkriegsjahren kamen. Die Altsiedler mussten sich zunächst an die Kriegsheimkehrer gewöhnen, doch es entwickelte sich im Laufe der Jahre ein ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl, wie Koegels Recherchen zeigen.
In der Kita „Himmelblau“ toben 200 Kinder
Irgendwann in den Nachkriegsjahrzehnten sei das aber verloren gegangen. So jedenfalls empfinden es die Alteingesessenen, wie sie dem Chronisten bei Begegnungen erzählten. „So entstand bei mir die Idee, mich näher mit dieser Kriegerheimstätten-Siedlung zu befassen“, erzählt Koegel. Inzwischen sei die Siedlung durch Zuzüge jünger geworden. In der Kita Himmelblau toben beispielsweise täglich gut 200 Kinder.
Koegel sieht die Chance, ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Optimistisch stimmt ihn, dass „Events“ wie ein kleines Musikfestival auf dem Lottbeker Platz oder Kinovorführungen der „FilmFreunde Wensenbalken“ gut besucht werden.
Siedlung war mit 200 Häusern geplant, nur 109 wurden gebaut
Als Impulsgeber für ein regeres Siedlungsleben könnten sich auch die Aktivitäten der Wohnprojektgruppe „Alstervögel“ erweisen; das generationsübergreifende Projekt plant, den Menschen vor Ort einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem gemeinsame Veranstaltungen stattfinden können. Die Arbeiten auf dem Areal haben bereits begonnen: „Im Frühjahr soll Richtfest gefeiert werden“, vermelden die „Alstervögel“.
Dass die Siedlung in den vergangenen Jahrzehnten „auseinandergefallen“ ist, liegt nach Koegels Einschätzung auch daran, dass sie ein unvollendeter städtebaulicher Torso geblieben ist. Von ursprünglich 200 geplanten Siedlungshäusern wurden nur 109 gebaut. Das führte auch dazu, dass Wensenbalken nie unter Denkmalschutz gestellt wurde und einige Gebäude durch Anbauten ihren ursprünglichen Charakter verloren haben. Dabei war die Siedlung von Anfang an etwas Besonderes. „Geplant wurde sie vom damaligen Hamburger Oberbaudirektor Fritz Schumacher“, erzählt Koegel.
Wohnraum für finanziell besser Gestellte
Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden in Hamburg viele solcher Siedlungen, in denen Kriegsteilnehmer leben sollten. Zu jedem Haus gehörte auch ein Stück Land zwecks Selbstversorgung. Auch Wensenbalken mit seinen soliden Backsteinbauten wurde im Rahmen des „Hamburger Kriegerheimstättengesetzes“ gebaut.
Allerdings wurden dort Reihen- und Doppelhäuser sowie Hamburger Kaffeemühlen gebaut; geplant von den Architekten Hermann Distel und August Grubitz, die auch den Entwurf für das Hauptgebäude der Hamburger Universität lieferten. Zielgruppe waren finanziell besser gestellte Siedler. „Die Reihenhäuser am Lottbeker Platz wurden beispielsweise ‚das Rathaus‘ genannt, weil dort Bauräte und andere hohe Beamte wohnten“, erzählt Koegel.
Viele Prominente hätten in der Siedlung gewohnt. Unter ihnen Rudolf Roß, von 1930 bis 1933 Erster Bürgermeister Hamburgs, und der Schriftsteller Ascan Klée Gobert, der nach dem Zweiten Weltkrieg von den britischen Besatzungsbehörden als Kultursenator eingesetzt wurde. „Sein Sohn war Boy Gobert, Schauspieler und späterer Intendant des Thalia-Theaters“, sagt Koegel. „Er ist in Wensenbalken aufgewachsen.“
Siedlung wurde auch das „braune Dorf“ genannt
Doch die Siedlung hat auch eine braune Vergangenheit, wie die Recherchen des früheren Volks- und Realschullehrers zeigen. Auch hier erlagen die gutbürgerlichen, deutschnationalen Siedler den Parolen der Nationalsozialisten. „Damals wurde die Siedlung das ‚braune Dorf‘ genannt, weil hier einflussreiche Parteifunktionäre wie der Hauptamtsleiter in der Reichspressekammer und Geschäftsführer des rechten ‚Hamburger Tageblatts‘ wohnten“, erzählt der Chronist.
Auch in seiner Doppelhaushälfte habe ein Nazi gelebt. „Er wurde ‚Hühner-Otto‘ genannt, weil er im Garten Federvieh hielt. Otto war schon vor der Machtergreifung in die NSDAP eingetreten.“ Später habe er sich mit seinen Parteigenossen zerstritten und deshalb seine Stelle im Arbeitsamt verloren. „Die alten Wensenbalker haben erzählt, dass er nie wieder einen Fuß auf den Boden bekommen hat.“
In Koegels Haus wohnte „Hühner-Otto“
Schlimmer erging es Siedlern wie Ascan Klée Gobert, der bei Umzügen der Nazis durch die Siedlung als „Neinsager“ verunglimpft und isoliert wurde. Wensenbalken bot dabei durchaus die Möglichkeit, sich in die innere Emigration zurückzuziehen. Das tat auch der von den Nazis entlassene sozialdemokratische Hamburger Bürgermeister Rudolf Roß. Er zog 1940 in eine Reichsheimstätte der Siedlung Wensenbalken.
Koegel hofft, dass die Siedlung trotz des regen Baugeschehens drum herum ihre eigene Identität pflegt und bewahrt. Er selbst kann an seinem Haus den Wandel aufzeigen: Der ursprünglich gut 1500 Quadratmeter große Garten ist jetzt nur noch knapp 1000 m2 groß. „Der Vorbesitzer hat 500 m2 als Bauland verkauft“, erzählt der Chronist.