Hamburg. Nur durch Gespräche können wir die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft lösen. Schwerpunkt im neuen Himmel & Elbe.
„Das Ei ist hart!“ Mit dieser Feststellung beginnt einer der populärsten Dialoge deutscher Fernsehunterhaltung, der mittlerweile zum kulturellen Gedächtnis gehört: der Sketch „Das Frühstücksei“ von Loriot. Die Handlung ist schnell erzählt. Ein Ehepaar sitzt am morgendlichen Tisch, vorwurfsvoll beklagt der Mann das zu hart gekochte Ei, woraufhin sich ein Gespräch entwickelt, in dem beide aneinander vorbeireden und sich letztlich als unfähig erweisen, einander zu verstehen. Das Gespräch endet mit Bertas Bemerkung, wie primitiv Männer doch seien, was Hermann murmeln lässt, dass er sie morgen umbringe.
Loriot ist Meister des Aneinander-vorbei-Redens
Loriot bearbeitet auf humorvolle Weise die Erfahrung einer scheiternden Verständigung zwischen Menschen. „Aus der zerbröselten Kommunikation, aus dem Aneinander-vorbei-Reden, aus den Problemen, sich zu äußern, aber auch daraus, das Gesagte zu verstehen“ entstehe „alles, was ich als komisch empfinde“, hat Loriot einmal gesagt.
Oft gibt es eine Unvereinbarkeit von Überzeugungen
In unserem Alltag ist das in der Regel alles andere als komisch, sondern enttäuschend, frustrierend und konfliktbehaftet. Dieses Gefühl verschärft sich noch, wenn es nicht nur um die in jeder Kommunikation innewohnende Möglichkeit des Missverstehens geht, sondern um die Erfahrung der scheinbar grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Positionen und Überzeugungen.
Die Corona-Epedemie hat zu unüberbrückbaren Kluften zwischen Freunden geführt
Die Corona-Epidemie hat dies verschärft: Wir erleben, dass Menschen, teilweise sogar in unserem unmittelbaren persönlichen Umfeld, Werte schätzen und Meinungen vertreten, die sich von unseren eigenen fundamental unterscheiden, ja sich gegenseitig ausschließen. Das Unverständnis, dass der langjährige Freund, die Schwester, die Arbeitskollegin oder der Schwager diese oder jene Position vertritt und auch nicht zu überzeugen ist, führt nicht selten zu einer unüberbrückbaren Kluft des Verstehens, die mit dem Bruch der Beziehung einhergeht. Die gesellschaftlichen Debatten sind zunehmend von wachsenden und aggressiver geführten Grabenkämpfen geprägt, in denen weniger die inhaltlichen Positionen, sondern die Fragen im Vordergrund stehen, wer auf welcher Seite steht, mit wem und für wen spricht und wer deswegen nicht mehr akzeptabel ist.
Unsere Sicherheit und Wohlstand stehen auf dem Spiel
Wir sind gegenwärtig mit existenziellen Herausforderungen und damit verbunden mit überaus schmerzhaften und bedrohlichen Fragen konfrontiert, auf die wir nicht weniger schmerzhafte und bedrohliche Antworten geben müssen. Schmerzhaft und bedrohlich, weil zum Beispiel unsere soziale Sicherheit oder unser Wohlstand auf dem Spiel steht, weil Privilegien infrage gestellt und Machtpositionen hinterfragt werden. Daran entzünden sich die sozialen Konflikte und Kontroversen der Gegenwart.
Anstatt Zuversicht macht sich Pessimismus in der Gesellschaft breit
Auf diese Krise reagieren wir verunsichert und nervös. Anstelle von Zuversicht macht sich Pessimismus in unserer Gesellschaft breit. Misstrauen ist die weitverbreitete Haltung: Misstrauen in das Geschick der Freiheit, Misstrauen in die Vernunft, Misstrauen in die parlamentarische Demokratie, Misstrauen in das europäische Projekt, Misstrauen allem Fremden gegenüber. Die Aktien derer, die auf Verständigung setzen – zwischen den Milieus, Klassen, Kulturen, Religionen und Völkern –, sind im Kurs gefallen.
Und sie fallen weiter ins Bodenlose, wie uns die Nachrichten und Bilder aus der Ukraine, aus Israel und dem Nahen Osten zeigen. Doch so weit müssen wir gar nicht schauen: Wer geglaubt hat, dass wir in unserer bundesdeutschen Gesellschaft Extremismus, Gewalt gegenüber Minderheiten, Fremdenhass und Antisemitismus überwunden oder zumindest unter Kontrolle hätten, der muss eingestehen, sich getäuscht zu haben. Da liegt es nahe, den einen Safe space zu suchen, sich nur noch in der eigenen Blase zu bewegen, anstrengende Debatten und Diskurse zu meiden, Kontrolle und autoritärer Führung den Vorzug zu geben vor Freiheit, Vertrauen und Beteiligung.
Den Mitmenschen werde ich jedoch nicht los, er stört mich in meiner egoistischen Ruhe
Aber es gibt keine Alternative zum Dialog: Den anderen, meinen Mitmenschen werde ich nicht los. Er stört mich in meiner egoistischen Ruhe. Ich kann versuchen, ihn zu ignorieren, mich seiner zu entziehen, ihn zu beherrschen oder ihn gar zu eliminieren, los werde ich ihn letztlich nicht. Das kennzeichnet den Menschen grundsätzlich, wie der Philosoph Emmanuel Levinas deutlich gemacht hat, und zeigt sich tagtäglich in unserem Leben: Wir werden zum Beispiel die Flüchtlinge nicht los – welche politischen Maßnahmen wir auch immer ergreifen –, und schon gar nicht werden wir den ethischen Anspruch, den Appell in einem jeden ihrer Gesichter los, sie nicht in ihrem Schicksal, ihrer Not und Sterblichkeit allein zu lassen.
Die Einsicht, dass der Mensch nicht dadurch wirklich Mensch ist, dass er sich abgrenzt und auf sich selbst bedacht ist, sondern dadurch, dass er zu seinen Mitmenschen in Beziehung geht, ist die zentrale Erkenntnis einer philosophischen Denkrichtung, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbildet: „Der Mensch wird am Du zum Ich“, fasst Martin Buber, einer ihrer zentralen Vertreter zusammen. Dass menschliche Beziehung und Gemeinschaft in der Begegnung von Ich und Du gründen, war nicht Schönwetterphilosophie, sondern wesentlich aus den grausamen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg erwachsen. So schrieb Franz Rosenzweig sein Hauptwerk in den Schützengräben. Die Wirklichkeit ernst zu nehmen, war sein Anspruch. Dabei ist der einzelne denkende Mensch kein abstraktes Wesen, vielmehr steht er immer schon in Beziehung: zu seinen Mitmenschen, zu seiner Umwelt – und zu Gott.
Der Dialog wird zur entscheidenden Größe, um die Welt und den Menschen zu verstehen.
Deswegen ist für ihn auch nicht das abstrakte, reine zeitlose Denken die angemessene Form der Philosophie, sondern ein sprechendes Denken, zeitgebunden und zeitgenährt. „Es lässt sich seine Stichworte vom andern geben, es lebt überhaupt vom Leben des anderen“, so Rosenzweig. Der Dialog wird zur entscheidenden Größe, um die Welt und den Menschen zu verstehen. Denn im wirklichen Gespräch geschieht etwas. Ich weiß vorher nicht, was mir der andere sagen wird. Es macht das Sprechen aus, dass ich zu jemandem spreche und für jemanden denke. Dieser Jemand ist immer eine ganz konkrete Person, hat nicht bloß Ohren zum Hören, sondern auch einen Mund zum Sprechen. Im Gespräch kann ich nichts vorausberechnen, sondern ich muss warten können und aufmerksam sein, weil ich vom Wort des anderen abhängig bin. Ich brauche Zeit.
Er fordert Mut und Gelassenheit, Geduld und Vertrauen, Offenheit und Entschiedenheit.
Das scheint mir die Einsicht der Stunde zu sein: Wir werden die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nur im Dialog meistern. Und das bedeutet anzuerkennen, dass ich des anderen, meines Mitmenschen bedarf und die Zeit ernst nehmen muss, denn nur dann entsteht ein wirkliches Gespräch. Der Dialog ist anstrengend. Er fordert Mut und Gelassenheit, Geduld und Vertrauen, Offenheit und Entschiedenheit.
Experten sprechen in der Katholischen Akademie Hamburg über das, was ihnen Kraft gibt
Dies bedarf der (Ein)Übung. Das ist der Grund, warum die Katholische Akademie Hamburg als Begegnungs- und Debattenort in dieser Stadt mit „50 Köpfe“ ein Veranstaltungsformat etabliert hat, bei dem Menschen unterschiedlichster Herkunft an einem Abend zu kurzen, zwanzigminütigen Zweiergesprächen zusammenkommen und über das sprechen, was z. B. ihnen Kraft gibt oder uns alle zusammenhält. 50 Menschen, prominent und weniger prominent, in jedem Fall aber Experten des eigenen Lebens, stellen sich für mehrere solcher Gespräche zur Verfügung, die per Losentscheid an die Teilnehmenden der Veranstaltung vergeben werden. So kommen Menschen miteinander ins Gespräch, die sich vermutlich sonst im Leben nie begegnet wären. Wer an diesen Abenden durch die Akademie geht und in den Räumen die unterschiedlichen Zweierkonstellationen beobachtet, der sieht Menschen auf ernste und bisweilen auch heitere Weise miteinander ins Gespräch vertieft.
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Wir brauchen in unserer Gesellschaft solche Gelegenheiten und Orte, an denen nicht im Vorfeld schon ausgemacht ist, was gedacht und gesagt wird, an denen es nicht primär darum geht, wer wo inhaltlich steht und welche Position vertritt.
Alle haben etwas beizutragen, weil sie über eine andere Lebenserfahrung verfügen.
Welcher Voraussetzungen bedarf es für einen gelingenden Dialog? Folgende Hinweise finden sich in einem Text, den sicherlich viele in diesem Zusammenhang nicht für relevant gehalten hätten: „Sich Zeit lassen, […] geduldig und aufmerksam zuzuhören, bis der andere alles gesagt hat, was er nötig hatte. […] Das schließt ein, […] alle Eile abzustreifen, die eigenen Bedürfnisse und Dringlichkeiten beiseite zu lassen und Raum zu geben.“ Es geht darum, „dem anderen wirkliche Bedeutung beizumessen, [….] seine Person zu würdigen und anzuerkennen, dass er ein Recht hat, zu existieren, selbständig zu denken und glücklich zu sein. Niemals darf man die Bedeutung dessen, was er sagt oder worüber er sich beschwert, schmälern, auch wenn es nötig ist, den eigenen Gesichtspunkt zum Ausdruck zu bringen.“
Für Papst Franziskus geht es darum, die Wahrheit des anderen zu erkennen
Papst Franziskus schreibt diese Sätze in seiner Enzyklika „Amoris laetitia“. Dieser Schrift liegt die Überzeugung zugrunde, „dass alle etwas beizutragen haben, weil sie über eine andere Lebenserfahrung verfügen“. Für Franziskus geht es darum, „die Wahrheit des anderen zu erkennen, den Wert seiner tiefsten Besorgnisse und den Hintergrund dessen, was er sagt, sogar hinter aggressiven Worten. Darum muss man danach trachten, sich in ihn hineinzuversetzen und zu versuchen, den Grund seines Herzens zu verstehen, herauszufinden, was ihn begeistert, und diese Leidenschaft zum Ausgangspunkt für eine Vertiefung des Dialogs machen.“
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Im Dialog kann eine neue Erkenntnis oder eine andere Sichtweise gefunden werden, die beide bereichert. „Wichtig ist die Fähigkeit, die eigenen Empfindungen auszudrücken, ohne zu beleidigen; eine Sprache zu gebrauchen und eine Art zu sprechen, die vom anderen leichter akzeptiert oder toleriert werden kann, auch wenn der Inhalt anspruchsvoll ist; die eigene Kritik vorzubringen, ohne jedoch den Zorn abzureagieren […] und eine moralisierende Sprache zu vermeiden, die nur anzugreifen, zu ironisieren, zu beschuldigen und zu verletzen sucht.“ Mit dieser Schrift setzt Papst Franziskus Maßstäbe – auch und gerade für die Kirche.
Die Wahrheit, die sich im Gespräch zeigt, muss sich bewähren in der Gemeinschaft
Franz Rosenzweig war davon überzeugt, dass sich im Dialog zeigt, was wahr ist. Aber diese Wahrheit hat eine andere Qualität als der Wahrheitsgehalt mathematischer Aussagen. Mit richtig oder falsch ist diese Wahrheit nicht zu fassen. Die Wahrheit, die sich im Gespräch zeigt, muss sich bewähren, und zwar im Leben des und der Einzelnen und der Gemeinschaft. In welchem Maß das Gedachte und Gesprochene zum gemeinschaftlichen Band unter den Menschen wird, ist für Franz Rosenzweig das Kriterium der Wahrheit. Unsere Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit müssen sich daran messen lassen, wie sehr sie sich im Leben bewähren. Das heißt konkret, welche Verbindung sie zwischen den Menschen stiften. So hart eine Debatte geführt werden muss, so kritisch und emotional die Argumente und Einlassungen sein mögen und so groß zeitweilig der Dissens im Gespräch ist, am Ende entscheidet das Maß an Einheit in der Vielfalt. Das stiftet der Dialog.
Der Autor ist geschäftsführender Direktor der Katholischen Akademie Hamburg.