Kinder, die eine Legasthenie oder Rechenschwäche haben, müssen zur Lerntherapie. Der Abendblatt-Verein unterstützt Mädchen und Jungen.
Zwei Nymphensittiche hat Max zu Hause und über sie weiß er alles. Überhaupt ist er ein Vogelfan, beobachtet Tiere gern in freier Natur und hat ein Talent dafür, sie zu zeichnen. Deswegen hat seine Lerntherapeutin Jasmin Apcin für ihn ein großes Vogelbuch besorgt und mit ihm ein Heft gestaltet, in das er seine Lieblingsvögel gemalt und ihre Eigenschaften beschrieben hat und das großen Anklang in seiner dritten Klasse in der Loki-Schmidt-Schule in Othmarschen findet. Wenn Max (Namen der Kinder verändert) in seinem Vogelbuch liest, ist er motiviert, Lesen und Schreiben zu üben. Ansonsten vermeidet er das. Er hat eine Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie), einfache Sätze kann der Achtjährige nur holprig vorlesen, der Finger gleitet dabei von Buchstabe zu Buchstabe.
„Deutsch macht mir nur mit Frau Apcin Spaß, hier spielen wir Spiele und ich bin alleine mit ihr beim Üben. Mein Ziel ist es, dass ich auch mal im Klassenkreis einen Text vorlese“, sagt der blonde Junge. „Vielleicht schaffst du das zum Ende des Schuljahres“, sagt Jasmin Apcin und lächelt ihn an. Jeden Tag macht sie mit bis zu acht Kindern an der Loki-Schmidt-Schule eine individuelle Lerntherapie, zudem mit einigen Kindern in der Gruppe Konzentrationsübungen. Für die Förderkoordinatorin Heike Krug ist Jasmin Apcin „eine große Bereicherung für unser Schule. Sie ist sehr kompetent, zugewandt und herzlich mit den Kindern, die eine Lese- oder Rechenschwäche, also Dyskalkulie, haben. Sie schätzt sie gut ein und durch Frau Apcin machen sie deutliche Fortschritte auch in ihrer Arbeitshaltung.“ Die Jungen und Mädchen, die bei Jasmin Apcin eine Lerntherapie machen, empfänden es als Privileg, zu ihr gehen zu dürfen, sagt Krug, an deren Schule seit acht Jahren Lerntherapien angeboten werden.
Nur Kinder mit sehr großen Störung bekommen eine Therapie bezahlt
Eine Außerunterrichtliche Lernhilfe (AUL), die von der Schulbehörde bezahlt wird, gibt es für jene Kinder, die mehrfach sehr schlechte Ergebnisse (unter fünf Prozent) bei den zweimal jährlich stattfindenden Lese- und Rechtschreib- oder Rechentests haben. „Wir machen eine Diagnostik, wenn Kinder am Ende der ersten Klasse kein Mengenverständnis haben, noch mit den Fingern zählen oder einfache Wörter wie Maus nicht schreiben können“, sagt Sonderpädagogin Krug. Viele Kinder seien jedoch grenzwertig in ihren Rechen-, Schreib- oder Lesestörungen, deswegen zahlten deren Eltern die Lerntherapie bei Jasmin Apcin privat oder stellten bei Bedürftigkeit einen Antrag bei der Abendblatt-Initiative „Kinder helfen Kindern“, die diese Therapien unterstützt.
„Es ist ganz wichtig, dass Kinder, die in der Schule auffällig werden und bei denen eine innerschulische Förderung nicht greift, so früh wie möglich therapiert werden. Diese Lernschwächen verwachsen sich nicht und ohne Therapie ist eine gesellschaftliche Teilhabe für diese Menschen später nur sehr eingeschränkt möglich“, sagt Marianne Nolte. Die Professorin der Mathematik-Didaktik lehrt an der Fakultät für Erziehungswissenschaft und gehört zu den Mitgründern des weiterbildenden Masterstudiengangs „Integrative Lerntherapie“ an der Universität Hamburg.
Unbehandelte Legastheniker können nur sehr eingeschränkt leben
Besonders in der weiterführenden Schule sollten Kinder sinnerfassend lesen können, „das ist wichtig in jedem Fach“ und später im Alltagsleben müssten Menschen wissen, „was drei Pfund Äpfel oder 100 ml Hustensaft bedeutet“, so Nolte. Menschen mit unbehandelter Dyskalkulie könnten später keine Bankgeschäfte erledigen, Legastheniker keine Schilder oder Rezepte lesen.
Diese Lernschwächen seien keine Krankheit und träfen Kinder aus allen Gesellschaftsschichten, betont Prof. Nolte, „aber sie können wegen der großen psychischen Belastung zu Krankheiten wie einer Depression führen“. Manchmal kann auch eine Hörverarbeitungsstörung vorliegen, solche Kinder hören viele Geräusche gleichzeitig, können aber nicht das Wesentliche herausfiltern. Wird etwas zum Beispiel vorgelesen mit ähnlich klingenden Lauten wie „m“ und „n“ muss das Kind raten, um welchen der beiden Laute es sich handelt. Folglich schreibt das Kind fehlerhaft oder versteht Inhalte nicht.
Wichtig ist ein individuelles Lernprogramm und eine Orientierung an den Stärken
Wie sehr ihre Leseschwäche sie bedrückt hat, beschreibt Ella, die seit einem Jahr wöchentlich zu Lerntherapeutin Jasmin Apcin geht. „Ich habe so viel schlechter als meine Freundinnen vorlesen können, immer wieder das I und E verwechselt und mich so klein gefühlt. Ich war richtig traurig und habe mich nie getraut, vor der Klasse vorzulesen“, sagt die Achtjährige, die auch Schwierigkeiten hat, sich lange zu konzentrieren. Mit ihr übt Apcin zum Beispiel immer länger werdende Sätze erst laut vorzulesen, sie sich zu merken und dann aufzuschreiben. „Frau Apcin hat mir Tricks gezeigt, wie ich lange Wörter gut lesen kann. Inzwischen traue ich mich, im Klassenkreis vorzulesen, und fühle mich richtig wohl dort“, sagt Ella.
Jasmin Apcin hat für sie – wie für alle ihre Schüler – ein individuelles Lernprogramm erstellt, tauscht sich immer wieder mit Lehrern und Eltern aus und geht auch mal mit in den Unterricht und beobachtet dort das Verhalten ihrer Schützlinge. Die 50-Jährige ist eigentlich Gymnasiallehrerin. Doch als sie merkte, dass Unterricht vor großen Gruppen ihr nicht liegt, hat sie vor 13 Jahren eine Weiterbildung zur Lerntherapeutin gemacht und eine eigene Praxis eröffnet.
Gute Lerntherapeuten erkennt man daran, sagt Prof. Marianne Nolte, dass sie von den Stärken und nicht den Schwächen der Kinder ausgehen und deren Selbstbewusstsein fördern. Für Jasmin Apcin ist es wichtig, dass die Schüler aus ihrer Stunde „mit besserer Laune rausgehen“. Sie arbeitet mit attraktiven Methoden wie einem Tablet, auf das sie Apps zum Blitzrechnen, für Konzentrations- und Leseübungen geladen hat. Genauso nutzt sie auch Knetgummi, mit dem man Buchstaben oder Mengen bilden kann, Wendekarten mit Wörtern oder Aufgabenbögen. Rund zwei Jahre dauert eine Lerntherapie durchschnittlich, in dieser Zeit sollten Schüler flüssig lesen und schreiben sowie rechnen lernen, „vor allem aber mit sich und ihrer Leistung zufrieden sein“.