Der Jugendliche wird durch einen Unfall querschnittsgelähmt – doch das Dorf und Vereine unterstützten ihn. Die Geschichte einer wunderbaren Hilfsaktion
Hoch und noch höher springt Kevin auf dem Trampolin. Dann der Hechter über das Trampolin-Netz und rein in den aufblasbaren Pool, der im Garten von Kevins Mutter Nicole Falk steht. Kevin macht das x-mal. Der knapp 15-Jährige ist ein Bewegungstalent, ein guter Fußballer, der Star im Verein des kleinen Dorfes Hemdingen bei Quickborn. Ein Draufgänger eben, wie Jungs in dem Alter so sind. Doch einen Moment ist er beim Absprung unaufmerksam, verheddert sich im Netz und fällt kopfüber in den Pool. Seine jüngere Schwester, die dabei ist, zieht den bewusstlosen Jungen aus dem Wasser und rettet ihm das Leben, das ab diesem Moment ein völlig anderes sein wird.
Denn Kevin erleidet einen Bruch des vierten und fünften Halswirbels. Er liegt in der Unfallklinik Boberg eine Woche lang im Koma. „Als ich aufwachte, konnte ich gar nichts mehr. Mein ganzer Körper war bewegungsunfähig, ich konnte noch nicht einmal alleine atmen. Nach Aussage der Ärzte damals sollte das auch mein Leben lang so bleiben“, erzählt der inzwischen 17-Jährige. Er richtet sich in seinem Rollstuhl auf und schlürft einen Latte Macchiato mit dem Strohhalm.
Im Juni vor zwei Jahren passierte der Unfall. Was folgt, ist ein Albtraum für die ganze Familie. „Es gab plötzlich so viele Fragen, so viel zu organisieren. Wir mussten das Haus umbauen, einen behindertengerechten Wagen kaufen, Therapien besorgen, ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte“, sagt Nicole Falk (40), eine Informatikerin, die von Kevins Vater getrennt lebt. Für einige Anschaffungen gibt es Geld von der Techniker Krankenkasse (TK) und reicht das Ersparte, aber dann kommen auch finanzielle Sorgen dazu.
Doch zum Glück ist die Familie fest im Dorf verankert, hat dort viele Freunde. „Kevin ist in Hemdingen bekannt wie ein bunter Hund“, sagt Nicole Falk lachend. Es startet eine fantastische Hilfsaktion, die weite Kreise bis nach Hamburg zieht und bis heute aktiv ist. Dabei ist Michael Luttmann, Kevins ehemaliger Fußballtrainer, zunächst die treibende Kraft. „Ich traf Kevin nach dem Unfall im September auf dem Dorffest und da wurde uns allen erst das ganze Ausmaß der Verletzungen bewusst. Wir trauten uns kaum, ihn anzusprechen“, erinnert sich der Feuerwehrmann.
Einige von Kevins Freunden können damit besser umgehen. „Die haben mich im Krankenhaus in Boberg besucht und wir haben zusammen die Fußball-WM angeschaut. Das war super für meine Psyche. Aber ich wollte nie Mitleid. Ich habe allen immer gesagt, wir machen jetzt das Beste aus meiner Lage“, sagt Kevin. Er kann von Anfang an besser mit der Situation umgehen als seine Mutter, die Monate braucht, um das Schicksal anzunehmen.
Als Michael Luttmann Nicole Falk im Oktober 2014 völlig verzweifelt antrifft, fragt er sie, ob er ihr helfen dürfe. Er fängt an zu organisieren: Den Umbau im Haus übernehmen lokale Handwerker zu Freundschaftspreisen. Gemeinsam mit einem Freund ruft Luttmann über die Hilfsaktion „Hörer helfen Kindern“ von Radio Hamburg zu Spenden für motorunterstützte Reifen für Kevins Rollstuhl auf. Damit kann der Junge alleine rollen und seine Arme kräftigen, statt sich nur mit einem Elektro-Rollstuhl fortzubewegen. Luttmann organisiert zudem noch in der Vorweihnachtszeit ein Benefiz-Altherren-Fußballturnier in Hemdingen. Es gibt inzwischen ein Website: www.wir-helfen-kevin.de. Die lokalen Medien berichteten. „Und wie bei einem Dominoeffekt setzte das die Hilfsbereitschaft vieler Menschen in Bewegung“, sagt Luttmann, der einen Sohn im gleichen Alter wie Kevin hat.
Kevins Genesung schlägt inzwischen alle ärztlichen Prognosen. Er kann alleine atmen, die Arme bewegen und durch das Armtraining das Essen zum Mund führen. „Kevin wurde so stabil, dass er die Voraussetzungen für eine Intensivtherapie im Zentrum der Rehabilitation in Pforzheim erfüllte“, erzählt Nicole Falk.
Nur dass die Krankenkasse diese dreimonatige Therapie für rund 52.000 Euro nicht bezahlt. Deswegen spenden Lions Clubs aus der Region und die Barbara-und-Wilfried-Mohr-Stiftung für diese besondere Therapie. Kevin machte sie Anfang dieses Jahres. Seither kann er frei sitzen, hat seine Medikamente reduziert und kann sogar Tischtennis spielen – und er hat eine gleichaltrige Freundin, eine ehemalige Spitzensportlerin, die von einem Lkw überrollt wurde und seither im Rollstuhl sitzt. „Pforzheim hat Kevin so viel Selbstbewusstsein gegeben. Er kam richtig glücklich zurück“, sagt seine Mutter.
Seit dem Unfall habe er sogar mehr und vor allem „bessere“ Freunde, die ihn in seinem Wohnhaus am Rand des Dorfes besuchen, erzählt er. Die Kumpels kommen am Wochenende, denn unter der Woche ist Kevin im Internat in Kiel. Dieses Jahr macht er den Realschulabschluss, danach will er das Abitur anstreben.
In Pforzheim hat Kevin ein
E-Handbike ausprobiert, das wie ein
E-Bike funktioniert. Es wird mit einem Hebel vor seinen Rollstuhl gespannt und hat eine elektrische Anfahrtshilfe. Doch Kevin muss selber auch viel Muskelkraft aufbringen, um mit dem Rad zu fahren. „Das Wichtigste ist jedoch, dass er mit diesem Handbike selbstständig zu seinen Freunden kommen kann. Er ist nicht darauf angewiesen, dass ihn jemand fährt“, sagt Nicole Falk. Der betreuende Arzt empfiehlt das Rad dringend, die Techniker Krankenkasse lehnt den Antrag mit Hinweis auf den vorhandenen E-Motion verstärkten Rollstuhl ab – obwohl der von Spenden bezahlt wurde.
Nicole Falk wendet sich an den Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“, der die PSD Bank Nord um Hilfe bittet. Deren Vorstandsvorsitzender Dieter Jurgeit sagt sofort zu, die rund 7000 Euro für das Handbike über den Hilfsfonds der Bank zu finanzieren. „Ich finde es toll, wie gut Kevin sein Schicksal annimmt und alles dafür tut, um wieder richtig leistungsfähig zu sein“, sagt Jurgeit. Bei einer Begegnung der beiden vergangene Woche erzählt Dieter Jurgeit dem Jugendlichen von seinen besten Freund, der fast im gleichen Alter verunglückte, nun Bürgermeister in Bayern ist und im Rollstuhl die Alpen überquert hat. „Jetzt hast du ein Ziel“, sagt Dieter Jurgeit zum Abschied. Und Kevin antwortet schlagfertig: „Ich war gerade mit dem Handbike beim Dorffest in Langeln. Das ist sechs Kilometer von Hemdingen entfernt – das ist doch schon ein Anfang.“
Die Familie ist überwältigt von all der Hilfe. „Mir hat diese Anteilnahme von so vielen Menschen unglaublich geholfen und mich ermutigt“, sagt Nicole Falk. Das nächste Ziel ist nun eine erneute sechswöchige Therapie in Pforzheim im Herbst. Diesmal signalisiert die TK eine Lösung zur Übernahme der Kosten. „Wir sind so froh, dass die Krankenkasse uns zugesichert hat, die Physio- und Ergotherapie von sechs Doppelstunden am Tag mit zwei Therapeuten fünfmal die Woche zu übernehmen“, sagt Nicole Falk sichtbar erleichtert. Sie hofft, damit zwei Drittel der Kosten durch die Krankenkasse abgedeckt zu haben.
Für einen weiteren Teil kommt der Verein „Quickborn hilft“ auf, der gerade 5000 Euro an die Familie übergeben hat. „Mich hat das Schicksal von Kevin einfach berührt“, sagt die Apothekerin Erika Stehr, die ihre Vereinsfreunde sofort davon überzeugen konnte, hier zu unterstützen. „Ich bin begeistert, dass wir Kevin helfen. Das ist ein großartiges Gefühl“, sagt NDR-Moderator Carlo von Tiedemann, der in Quickborn lebt und Schirmherr des Vereins ist.
„Nun erhoffen wir uns von der Therapie, dass Kevin sich alleine umsetzen kann“, sagt Nicole Falk zuversichtlich. Also dass er alleine vom Rollstuhl ins Bett klettern oder sich auf die Toilette setzen kann. „Und wenn das nicht klappt, lerne ich eben was anderes, was ich jetzt noch nicht kann“, sagt Kevin ganz cool. Er wird seinen Weg machen, das weiß er ganz genau.