Hamburg. Wolfgang Heinrich schrieb 1980 an die Redaktion: Er und seine Kinder wünschten sich eine neue Mutter und fanden Marianne Kleinert.
Marianne Kleinert hat die Zeitung von damals herausgekramt. Eine verblichene Seite, auf deren Rand sie mit Kugelschreiber eine Adresse notiert hat: Wollgrasweg 5, rechts Shell, links Ampel. Sie erinnert sich daran, wie sie, den Telefonhörer in der einen, den Stift in der anderen Hand, die Anschrift auf das dünne Zeitungspapier kritzelte. Zitternd vor Aufregung. Denn so etwas hatte sie noch nie getan.
Noch heute bekommt Marianne Kleinert eine Gänsehaut, wenn sie von damals erzählt. Von jenem Sonnabend im Dezember 1980, als sie das Hamburger Abendblatt beim Frühstück aufschlug und die Geschichte las von Wolfgang Heinrich und seinen vier Kindern Heike, Daniela, Ingo und Bettina, deren Mutter an einem Gehirntumor gestorben war.
Der größte Weihnachtswunsch: Ein neue Mutti
Über dem Foto von Vater und Kindern stand in großen Buchstaben: „Unser größter Weihnachtswunsch: eine neue Mutti!“ Und darunter ein bewegender Brief von Wolfgang Heinrich an die Redaktion: „Nun kann ich bald nicht mehr. So, wie ich jetzt mit meinen Kindern lebe, kann es nicht weitergehen. Meiner Frau habe ich auf dem Sterbebett versprochen, die Kinder niemals in ein Heim zu geben. (…) Ich weiß ja, dass es nicht leicht ist, einen Mann mit vier Kindern zu heiraten.
Aber Kinder machen ja nicht nur Arbeit, sie machen auch Freude. Es ist so schrecklich, jetzt schon das zweite Weihnachtsfest ohne Frau im Haus verbringen zu müssen, immer allein zu sein und die Kinder ohne Mutter aufwachsen zu sehen. Unser größter und einziger Weihnachtswunsch ist eine neue Mutti. Vielleicht liest eine liebe Frau von meiner Not und ruft uns einmal an.“ Marianne Kleinert legte die Zeitung zur Seite und griff zum Telefon.
Danke an die Redaktion „Von Mensch zu Mensch“
40 Jahre sind seit dem ersten Telefonat zwischen Frau Kleinert und Herrn Heinrich vergangen. Zeit für die beiden, Danke zu sagen an die Redaktion „Von Mensch zu Mensch“. „Denn ohne das Abendblatt wären wir heute nicht hier“, sagt Wolfgang Heinrich. Der 79-Jährige hat es sich im Sessel vor dem Fenster bequem gemacht.
Seine Frau kramt ein paar alte Fotos heraus. „Hier“, sagt sie, „das sind wir in unserem ersten gemeinsamen Sommer. Und das ist Herr Heinrich mit einem unserer Enkelkinder.“ Inzwischen sind Wolfgang Heinrich und Marianne Kleinert Oma und Opa von neun Enkelkindern. Sie sind seit 19 Jahren verheiratet. Und wie sie betonen: „Immer noch sehr glücklich!“
Sie wollte eigentlich nicht dauerhaft bleiben
Dabei hatte Marianne Kleinert nicht geplant, sich zu verlieben, als sie sich am 21. Dezember 1980 mit ihrem VW, in Dreiviertel-Stiefeln und Karo-Rock auf den Weg machte, um Herrn Heinrich und seine vier Kinder kennenzulernen. „Ich war eigentlich nur auf der Suche nach ein paar Menschen, mit denen ich Heiligabend verbringen konnte“, sagt sie. „Ich hatte nicht vor, dauerhaft zu bleiben.“
Doch dann stand Wolfgang Heinrich vor ihr. Genau ihr Typ von Mann. Und die vier Kinder, alle gesund und fröhlich. „Sie hatten den Tisch gedeckt mit dem guten Porzellan, es gab Kuchen und Kaffee. Wir sprachen über die Schule und über unsere Sternbilder“, erinnert sie sich. „Und dann habe ich zu Herrn Heinrich gesagt: ‚Wie wäre es, wenn wir einfach eine Weihnachtsfamilie sind? Nur für einen Abend.‘“
Ihm war bald klar: „Das ist sie!“
40 Jahre liegt dieses erste gemeinsame Weihnachtsfest zurück, an dem es Pellkartoffeln gab und Marianne ein knöchellanges Nachthemd trug, damit auch ja nichts passieren würde. „Für mich standen die Kinder im Mittelpunkt, nicht der Mann“, sagt sie. „Ich habe sogar angeboten, die Kinder zu hüten, damit Herr Heinrich auf Brautschau gehen kann. Mutti wollte ich gar nicht sein und auch nicht werden. Ich hatte ja meinen Job als Buchhalterin und habe gern gearbeitet.“ Für Wolfgang Heinrich war bereits nach wenigen Treffen klar: „Keine ist wie Marianne.“
Und dann ging alles ganz schnell. Gemeinsamer Urlaub, gemeinsame Tage, gemeinsame Nächte, das erste gemeinsame Osterfest und der Muttertag, an dem die Kinder ihr ein Gedicht schrieben und im Hamburger Abendblatt auf der „Mensch-Seite“ veröffentlichten. Im November 1981 zog Marianne Kleinert von Ahrensburg nach Maschen. „Ich habe am Anfang zu Wolfgang gesagt, ich schaffe das nicht“, erinnert sie sich. Er antwortete nur: „Wenn wir beide an einem Strang ziehen, dann schaffen wir das!“
Es gab auch viele Durststrecken
Sie lehnt sich im Sessel zurück, verschränkt die Arme auf dem Schoß. Wolfgang Heinrich zündet das Feuer im Kamin an, kocht einen Kaffee. „Marianne war unsere Rettung“, sagt er. Manchmal können die beiden ihre Geschichte selbst nicht glauben. Weil so etwas doch nur im Film passiere und zu schön klinge, um wahr zu sein, findet Wolfgang Heinrich. „Ich liebe meine Marianne wie am ersten Tag“, sagt er. „Wir sind zusammen durch die Wüste gegangen, haben uns an der Hand gehalten und sind nicht verdurstet“, sagt sie.
Obwohl es Durststrecken gab in dieser zusammengewürfelten Familie. Momente, in denen Marianne Kleinert zweifelte, ob sie den Aufgaben einer Vierfach-Mutter gewachsen ist. Zum Beispiel, wenn sie streng sein musste und die Kinder sie wissen ließen, dass Marianne ihnen gar nichts zu sagen habe, weil sie eben nicht die leibliche Mutter sei. Sie habe sich nie anmerken lassen, wie sehr sie das verletzt habe, sagt sie. „Und ich habe nie an meiner Entscheidung gezweifelt.“
Pubertierende Kinder und geklaute Zweisamkeit
Statt Sauna und Tennis nach Feierabend mussten Berge von Wäsche zusammengelegt, Vokabeln abgefragt und pubertierende Mädchen aus der Disco abgeholt werden. Er arbeitete im Schichtdienst. „Doch wir haben uns trotz der vielen Aufgaben immer wieder auch als Paar eine Auszeit genommen. Sind an die See und in die Berge gefahren. Ganz spontan, manchmal mit Übernachtung.“ „Sternstunden“ nennt sie diese 24 Stunden geklaute Zweisamkeit.
Längst sind die Kinder ausgezogen, haben zum Teil eigene Familien gegründet. Zu Ingo, dem Zweitjüngsten, hat Marianne Kleinert noch heute ein besonders enges Verhältnis. „Der Junge ist mir immer sehr nah gegangen“, sagt sie. „Er war sechs, als ich ihn das erste Mal sah, furchtbar dünn und er stotterte. Ich habe mir viel Zeit für ihn genommen.“ Ingo ist heute 46, arbeitet in Fürth als Informatiker. „Er hat seinen Weg gemacht“, sagt Marianne Kleinert lächelnd.
Es hat sich trotz aller Strapazen gelohnt
Wenn die 81-Jährige heute auf ihren Lebensweg zurückblickt, ist sie froh, dass sie damals zum Hörer gegriffen hat. Auch wenn es viele kritische Stimmen im Bekanntenkreis gab, ihre Eltern sich sogar von ihr abwandten aus Sorge, dass ihr Erbe eines Tages an vier fremde Kinder gehen würde. Doch Marianne Kleinert weiß, dass all die Erfahrungen, das Staunen und Wachsen mit den Kindern, die kleinen und großen Familienmomente und die Zeit mit Wolfgang Heinrich all die Strapazen einer „Mutti“ wert gewesen sind.