Das Hamburger Projekt richtet sich speziell an Mädchen und Jungen mit schrecklichen Fluchterfahrungen aus dem Bezirk Bergedorf

Walther schaut zufrieden. Erstens kann ein Pony von 18 Jahren nicht mehr viel erschüttern, zweitens kennt er Alma – und vertraut ihr. Sorgfältig kratzt die achtjährige Schülerin seine Hufe aus. Wellness für Wallach Walther. Derweil Freundin Salma nach den beiden Ziegen guckt, kommt ihr Bruder Mohammed mit Eiern aus dem Hühnerstall zurück. Noch warm, gerade gelegt. Behutsam geht er damit um. Plötzlich prasselnder Regen sorgt für eine Unterbrechung dieses Dienstagnachmittags am Elbdeich in Kirchwerder: bloß schnell rein in die Scheune. Dort stehen liebevoll geschnittenes Gemüse, Obstteller, Kakao und Apfelsaft bereit.

Willkommener Anlass, einer spannenden, lehrreichen Geschichte auf den Grund zu gehen. Beim Projekt „PonyStärke“ ist der Name Programm: Die Ponys Appie, Othello und Walther haben eine wichtige Rolle beim spielerischen Bemühen, Grundschulkinder mit Fluchterfahrungen zu stärken. Soziales Miteinander, die Verbundenheit mit der Natur, das Selbstwertgefühl sollen stabilisiert werden. An zwei Nachmittagen in der Woche sowie mehrtägigen Ferienaktionen leistet die diplomierte Sozialpädagogin Frauke Walkusch Erstaunliches. Mit Feingefühl und Sachverstand, mit guten, hin und wieder auch deutlichen Worten. Mit Tochter Henriette, 14 Jahre alt, steht ihr regelmäßig eine Pferdekennerin zur Seite. Sie spricht die Sprache der Kinder. Alma, Salma und Mohammed besuchen die Grundschule Mendelstraße in Lohbrügge.

Am Donnerstag sind Flüchtlingskinder aus der Ukraine auf dem Hof der Familie Walkusch dabei. Wie Salma mit Wurzeln in Somalia sowie Alma und Mohammed mit Eltern aus Syrien sind auch die ukrainischen Grundschüler in der Wohnunterkunft Mittlerer Landweg untergebracht. Aktuell leben dort 1300 Menschen, davon knapp ein Viertel aus der Ukraine.

Anfangs hatten die Kinder Angst, die Ponys alleine zu versorgen

Zu den angenehmen Überraschungen dieses Nachmittags bei „PonyStärke“ zählen die Deutschkenntnisse der Kinder. Sie sind ausgezeichnet. Klasse, wer so schnell so gut lernen kann. „Ich hüpfe am liebsten auf dem Trampolin“, sagt Salma, „oder sitze auf den Ponys.“ Frauke und Henriette Walkusch führen die Tiere an der Longe über die kleine Koppel. Anfangs hatte den Kindern der Mut gefehlt. Der Kontakt zu Ziegen, Katzen, Hühnern und zur gutmütigen Hündin Frieda erfolgte Schritt um Schritt. Wenn Frieda, auf dem Rücken liegend, um Streicheleinheiten bittet, ist besonders Salma rasch zur Stelle. Wer in seinem Leben bisher noch nicht viel Anlass zur Freude hatte, freut sich bereits über Kleinigkeiten.

Alma hat Spaß beim Füttern der Tiere. Walther, der vierbeinige Freund, liebt Müsli. Mohammed, an diesem Tag ältestes Kind, hat keine Furcht vor dem großgewachsenen Pony Othello. Mit den Kumpels in der Flüchtlingsunterkunft spielt er am liebsten Fußball oder Mikrone, ein klassisches Versteckspiel mit Augenzuhalten, Zählen und schließlich Suchen.

Alma und Mohammed verbringen unbeschwerte Momente in der Natur und mit den Tieren auf dem Hof. Es gibt Ziegen, Ponys, Hühner, einen Hund.
Alma und Mohammed verbringen unbeschwerte Momente in der Natur und mit den Tieren auf dem Hof. Es gibt Ziegen, Ponys, Hühner, einen Hund. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

„Die Entwicklung ist deutlich“, weiß Frauke Walkusch aus nun zweijähriger Erfahrung mit „PonyStärke“. Vertrauen, Aufgeschlossenheit und Selbstbewusstsein würden spürbar gesteigert. Die 50-jährige Sozialpädagogin betreut hauptsächlich ehrenamtliche Stadtteilmütter in Lohbrügge. Dienstags und donnerstags gegen 15 Uhr holt sie Grundschüler aus der Wohnunterkunft zu sich nach Hause auf den Hof. Bei der Verständigung mit Neuankömmlingen aus der Ukraine helfen Gesten, die Tiere – und am Anfang eine Übersetzungs-App. Tiere helfen Brücken zu bauen. Dass die Pädagogin zudem ausgebildete Reitlehrerin ist, kommt der Aktion zugute.

Das Projekt findet auf dem Grundstück der Familie Walkusch statt

Die Idee für das Projekt „PonyStärke“ kam Frau Walkusch durch eine Ferienwoche mit geflüchteten Kindern im Herbst 2021 auf einer Reitanlage in der Nähe. „Warum nicht während der Woche nachmittags und regelmäßig?“, fragte sie sich – und ihre vierköpfige Familie. Und warum nicht auf dem eigenen Grundstück? Die fast 100 Jahre alte Gartenkate hinterm Elbdeich bietet den idealen Rahmen für eine Initiative mit Bodenhaftung, Kontakt zu Natur und Tieren, zu Freizeit im Freien. In der nasskalten Jahreszeit bietet der Hausanbau ein willkommenes, warmes Quartier. Derzeit hat sich in der Scheune eine Schwalbenkolonie eingenistet.

Im Winter sitzen Mutter und Tochter Walkusch mit ihren Besucherinnen und Besuchern in einer gemütlichen Pferdebox beisammen. Denn ein gepflegter Klönschnack gehört dazu. Es geht dann um Gott und die Welt, zweimal im wahrsten Sinn des Wortes, um Religionen, deutsche Sitten und Gebräuche, um Gemeinsamkeiten, um Respekt und Menschenwürde. Ein Dutzend Hühner im Stall nebenan schafft Gesprächsstoff, nicht nur wegen der Eier und des christlichen Osterfests. „Nach dem ersten Warmwerden ergeben sich vertrauensvolle Unterhaltungen“, sagt Henriette Walkusch. Die 14-Jährige aus Klasse 9 der Stadtteilschule Kirchwerder ritt bereits Turniere. Und warum kümmert sie sich in ihrer Freizeit um Kinder, denen es bisher nicht nur gut ging im Leben? „Es macht Sinn“, antwortet Henriette. „Außerdem freue ich mich, wenn sich die Kinder freuen.“

Gefördert durch die Buhck-Stiftung und die Ukrainehilfe Hamburg.

So schnell, wie er kam, stoppt der Regenguss. Die Sonne lässt sich blicken. Raus aufs Trampolin und auf die Koppel – zu Walther und dem 23 Jahre alten Ponysenior Othello. Gelegenheit für Informationen über die Hintergründe eines faszinierenden Projekts. Im Prinzip besteht es aus einer Person: Frauke Walkusch. Der Organisationsaufwand ist minimal, der Erfolg erstaunlich. Träger von „PonyStärke“ ist der gemeinnützige Verein Sprungbrett. Zum finanziellen Aufwand will er sich auf Nachfrage nicht äußern. Ermöglicht wird die Initiative durch die Buhck-Stiftung und den Gemeinschaftsfonds Ukrainehilfe Hamburg. „Wir unterstützen ,PonyStärke‘ mit vollem Herzen“, sagt Förderin Bianca Buhck, „denn das Projekt verbindet unsere Stiftungsziele: Umweltbildung sowie Integration von Kindern und Jugendlichen.“

In diesem Moment eilen die Kinder in die Scheune. In einem Plastikeimer haben sie Regenwürmer gesammelt – aus dem Misthaufen. Die Hühner freuen sich über diese Delikatesse. Salma nimmt sich Gurkenscheiben und Strauchtomaten, selbst geerntet, und läuft davon. Das Hauptproblem an „PonyStärke“ sei, hatte sie zuvor beim Kakao gesagt: Die drei Stunden bis 18 Uhr vergehen immer so schnell.

Es ist schön, das eigene Glück mit Menschen zu teilen

Derweil die Kinder draußen unter Beobachtung von Henriette spielen, beantwortet Frauke Walkusch eine Frage, die ihr von Kolleginnen und Bekannten oft gestellt wird: „Stört es nicht die Privatsphäre, wenn du die zu betreuenden Kinder zu euch nach Hause holst?“ Es sei schön, meint sie, das Glück mit Menschen zu teilen, die bisher einen beschwerlicheren Weg hatten. Und dass sie dankbar sei, so zu wohnen, wie ihre Familie nun einmal lebt: in einer grünen Idylle am Rande Hamburgs.

Auf der Koppel warten Walther und Othello. Letzterer zumindest ist eine Nummer zu groß für Mohammed und die beiden Mädchen. Im Nu wird das Problem angepackt und mit einer Trittleiter gelöst. Typisch „PonyStärke“.