Bamberg. Johnny Grasser hat eine Tetraspastik. Dennoch kletterte er auf Rios Zuckerhut, wird von Olympioniken und Führungskräften gefeiert.
„Ich bin Mensch, Sportler, behindert“, so beschreibt sich Johnny Grasser in seinem Buch. „Mich bremst niemand aus“, das dieses Jahr erschienen ist. Das beschreibt den 34-Jährigen nicht genug. Der Bamberger spricht außerdem vor Schülern, Studenten, Führungskräften und Olympioniken – und ist Motivationstrainer. Und vor allem betreibt der Rollstuhlfahrer nicht irgendeinen Sport, sondern er liebt den Extremsport – er fährt leidenschaftlich gern Ski, ist mit seinem Rollstuhl vom 7,5-Meter-Brett in ein Schwimmbecken gesprungen und hat sich bei den „Mud Masters“ vor drei Jahren 16 Kilometer an Gehstöcken durch den Matsch gekämpft. Sein jüngstes und schwierigstes Projekt hat er gerade Ende 2022 durchgeführt: Er ist mit Hilfe eines Teams die 400 Meter hohe Steilwand des Zuckerhuts in Rio de Janeiro hochgeklettert. Grasser sucht sich bewusst scheinbar unüberwindbare Hindernisse aus – denn damit erhält er mediale Aufmerksamkeit. Der Bayer ist ein Kämpfer für Inklusion, einer, der zeigt, dass eine Behinderung etwas Positives sein kann, dass man damit Grenzen sprengen kann. Im Abendblatt-Podcast „Von Mensch zu Mensch“ spricht der Sportwissenschaftler über seine Kindheit, seine Qualen und Erfolge sowie über den Sex mit Frauen.
Sie haben sich drei Jahre lang intensiv auf die Besteigung des Zuckerhuts vorbereitet, und nun waren Sie oben. Was bedeutet ihnen dieser Berg?
Johnny Grasser: Für mich steht der Berg für die ganzen Rückschläge, die ich in meinem Leben bisher hatte, vor allem aber auch dafür zu zeigen, was man alles erreichen kann, egal ob mit oder ohne Handicap. Er zeigt, dass ich nicht da aufhöre, wo der erste Widerstand kommt, sondern dass ich mit dem richtigen Team und Equipment alles schaffen kann, auch wenn es als unmöglich erscheint.
Sie brauchen Assistenz im Alltag, weil Sie sonst bis zu zwei Stunden benötigen würden, um sich alleine anzuziehen, schreiben Sie im Buch. Wie kam es zu Ihrer Tetraspastik?
Ich war eine Frühgeburt, bin knapp drei Monate zu früh gekommen. Und dann gab es einen Behandlungsfehler durch eine Krankenschwester durch den ich einen folgenreichen Krampfanfall bekam – den einzigen meines Lebens. Durch den kurzzeitigen Sauerstoffmangel im Gehirn habe ich nun Muskelspannungen, die ungefähr dreimal so hoch sind wie bei jemanden ohne Handicap. Normalerweise sollte man mit einer Tetrapastik, was die schwerste Form einer Spastik ist, unkontrollierte Muskelzuckungen haben und total verkrüppelt sein. Ich dürfte nicht mal in der Lage sein, zu sitzen, Zähne zu putzen oder irgendwas alleine zu können. Ich brauche im Alltag Assistenten, um alle meine Termine wahrnehmen zu können.
Sie schreiben einen berührenden Satz: In den ersten Monaten „war ich für meine Mutter eine Hypothek und kein Glücksfall, wie man es eigentlich mit einem Kind verbindet“. Sie hat das in ihr Tagebuch geschrieben, Sie durften es lesen. Wie sind Ihre Eltern mit Ihrer Behinderung umgegangen?
Ich habe eine sehr große Familie. Sie ist der Grundstein dafür, dass ich heute so bin, wie ich bin, und dass ich so viel auf die Beine gestellt bekommen habe und so selbstständig bin. Meine Eltern haben vorgelebt, wie man mit einem Kind mit Handicap optimal umgeht: nämlich völlig unerschrocken und unvoreingenommen. Sie haben von Anfang an versucht, das Beste daraus zu machen, haben mich gefordert, und zwar immer wieder. Sie haben mich wie ein ganz normales Kind behandelt und mich genauso auch mal hängen und probieren lassen. Ich sollte mit vielen Situationen selber klarkommen und das ist heute ein großer Vorteil.
Das hört sich wirklich ideal an, und Sie beschreiben ja auch, dass Ihre Eltern Experimentelles ausprobiert haben. So sind sie mit Ihnen zu einem Manualtherapeuten in die Ukraine gefahren. Heute natürlich undenkbar. Aber wie kamen Sie denn auf diesen speziellen Physiotherapeuten?
Wir hatten damals eine Kinder-Physiotherapeutin in Bamberg, die sehr umtriebig war, was das anbelangt, und es gab damals eine Veranstaltung, wo diese Therapie vorgestellt wurde in der Nähe von Nürnberg. Dadurch wurden meine Eltern darauf aufmerksam und haben sich dafür entschieden. Ich bin dann im Alter von knapp vier Jahren das erste Mal mit meinen Vater in die Ukraine geflogen bin.
Ihre Eltern haben mehr als 100.000 Euro von ihrem eigenen Geld für ihre Behandlungen ausgegeben. Wieso das denn? Sie leben doch in Deutschland und sind hier krankenversichert.
In Deutschland haben wir leider ein Krankenkassen-System, das nicht unbedingt gewillt ist, ein bisschen außerhalb der Schubladen und Regeln zu denken. Wenn etwas nicht im Heilmittelkatalog steht, gibt es dafür auch keine Förderung. Der Witz daran ist, sobald man durch Therapien Fortschritte erzielt, kürzen die Kassen im Umkehrschluss häufig dann das, für das man einen Zuschuss bekommen hat, weil man ja mobiler geworden ist. Und das ist so falsch, denn es motiviert überhaupt nicht, sich anzustrengen, dass man beweglicher und selbstständiger wird.
Diese Erfahrungen kann ich leider bestätigen. Ich setze mich über den Verein Hamburger Abendblatt hilft viel mit Krankenkassen auseinander, weil sie öfters scheinbar Selbstverständliches – wie notwendige Therapien und Hilfsgeräte für Menschen mit Behinderung – ablehnen. Oft hilft der Verein dann mit einer Spende, die Lebensqualität mit einem Hilfsmittel zu fördern. Gerade bei schwerbehinderten Kindern wird damit deren Mobilität sehr verbessert.
Wie war denn Ihre Schulzeit? Sie sind in Bamberg aufs Gymnasium gegangen und dort haben Schüler auf Initiative einer Lehrerin einen sogenannten „Johnny-Dienst“ eingerichtet. Waren Sie gut integriert?
Ja, meine Mitschüler wurden verpflichtet, mir im Zweierteam zu helfen, sei es zur Tafel zu kommen oder die Tür aufzuhalten, wenn ich auf Toilette musste. Und das hat auch sehr gut funktioniert, dadurch war ich sehr gut im Klassenverbund integriert. Dann gab es leider einen Aufstand von Seiten der Eltern mit nicht ganz so guten Schülern. Sie behaupteten, ihre Kinder seien nur wegen mir so schlecht, weil sie ja zu viel Zeit mit mir verbringen würden. Diese Eltern haben einen Zivildienstleistenden gefordert, sonst droht ich, von der Schule zu fliegen. Für meine Mutter war das eine herbe Enttäuschung. Ich habe dann einen Zivi bekommen. In dem Moment gab es eine Barriere zwischen mir und meinen Mitschülern.
Als Motivationscoach wurden Sie auch eingeladen, zu den deutschen Olympioniken und Para-Olympioniken zu sprechen. Wie kam es dazu?
Über Adidas habe ich 2021 die Möglichkeit bekommen, beim Club der Besten einen Vortrag zu halten. Der Club ist für die Top-Athleten, die in dem jeweiligen Jahr die höchstmöglichen Medaillen geholt haben. Für mich war das bis dahin der aufregendste Vortrag, weil ich mir gedacht habe: Was soll ich denen berichten? Die sind ganz oben, denen brauche ich nichts über Motivation zu erzählen. Doch mir wurde gesagt, mein Vortrag sei einer der der besten und nachhaltigsten gewesen.
Sie reden offen über Ihr Verhältnis zu Frauen und ihrem Bedürfnis nach Sex und einer Partnerin. Haben Sie eine Beziehung?
Nein, ich habe keine Beziehung. Es ist extrem schwer, Frauen zu finden, die kein Problem mit meinem Handicap haben. Viele denken, man kann keinen Sex haben. Aber auch die allermeisten Querschnittsgelähmten können Sex haben, und ich bin noch nicht mal gelähmt. Größtes Problem ist, dass Frauen oft Angst davor haben, dass ihr Umfeld komisch auf so eine Beziehung reagieren könnte. Doch ich bin ein Mensch, der offen für Vieles ist. Ich würde mir wünschen, dass es andere Menschen auch sind.
Wie sähe für Sie ein perfekte inklusive Gesellschaft aus?
Eine perfekte Gesellschaft ist so, dass wir das Wort Inklusion nicht mehr gebrauchen, weil wir einfach alle ganz normal miteinander umgehen. Und ganz normal heißt, dass zugebilligt wird, dass jemand, der einen Behinderten fragt, auch mal das Wort „behindert“ sagen und vielleicht auch mal eine falsche Frage stellen darf. Denn kein Mensch kann einem anderen Menschen in den Kopf gucken. Und wenn wir alle ein wenig vorurteilsfreier und offener miteinander umgehen würden, dann haben wir genau das, was ich mir wünsche.
Johnny Grasser: „Mich bremst niemand aus“, Riva, 233 Seiten, 16 Euro.