Das Hamburger Projekt „Leben wie ich will“ begleitet Menschen mit Behinderung und psychisch Kranke, die eine Veränderung möchten.
Will ich alleine wohnen oder lieber in einer betreuten WG – und wie sage ich es meinen Eltern? Mein Job ist langweilig, doch was passt zu mir? Warum bin ich so unzufrieden mit meiner Alltagsgestaltung? Das sind Fragen, mit denen Menschen mit Behinderung oder einer psychischen Erkrankung zu Antje Nötzel und Anne Reichardt kommen.
Seit etwas mehr als einem Jahr sind die beiden Beraterinnen in dem Modellprojekt „Leben wie ich will“ insbesondere für Ratsuchende im Raum Barmbek und Dulsberg zuständig. Das Angebot richtet sich an Menschen in jedem Alter. „Wir grenzen niemanden aus. Wenn eine Person sagt, sie fühlt sich beeinträchtigt, weil es ihr psychisch schlecht geht, kann sie auch zu uns kommen, wenn sie das Bedürfnis nach Veränderung in sich spürt. Wir helfen dabei rauszufinden, was den Klienten unzufrieden macht“, sagt Antje Nötzel in der aktuellen Folge des Podcasts „Von Mensch zu Mensch“.
Ziel des Projekts ist es, dass Menschen mit Beeinträchtigungen nach ihren Vorstellungen im Stadtteil leben können und dafür die Hilfen finden, die das ermöglicht. Ungewöhnlich ist, dass sich zur Unterstützung des Projekts verschiedene Institution zusammengefunden haben: Mit dabei ist das Sozialkontor, Leben mit Behinderung Hamburg, das Rauhe Haus, Fördern & Wohnen, die Evangelische Stiftung Alsterdorf, die Hamburger Sozialbehörde und das Fachamt Eingliederungshilfe. Das für Ratsuchende kostenfreie Programm wird finanziert im Rahmen des Hamburger Trägerbudgets und durch die Heinrich-Leszczynski-Stiftung.
Die Mutter wollte, das ihr Sohn endlich auszieht
Frau Nötzel und Frau Reichardt nehmen sich Zeit, kommen sogar nach Hause. Sie besprechen mit den Menschen oder auch gemeinsam mit deren Angehörigen, wie gute Wege und Lösungen aussehen können. So wandte sich kürzlich eine Mutter an die Beraterinnen, die sich wünschte, dass ihr Sohn endlich auszieht. „Der Sohn wollte bei ihr wohnen bleiben, doch sie merkte, dass sie an ihre Grenzen der Betreuung gestoßen ist“, berichtet Nötzel. Es gab dann ein gemeinsames, klärendes Gespräch mit Mutter, Sohn und ihrer Kollegin Anne Reichardt als Moderatorin, „wo es dann zu einer Lösung kam, mit der beide Seiten zufrieden waren.“
Nötzel erzählt im Podcast von einem älteren Mann, der zu ihr kam, weil er gern in ein betreutes Wohnen ziehen wollte. „Ich bin alt, gehe bald in Rente, bin wackelig auf den Beinen, sagte er.“ Durch Nachfragen fand die 55-Jährige heraus, dass es nicht um das betreute Wohnen ging, sondern, dass ihr Klient sich unsicher in seiner Wohnung fühlte, Angst hatte, im Bad auszurutschen. „Da konnte schon eine rutschfeste Matte und ein Haltegriff im Bad helfen.“
Sie versuche rauszufinden, welche Stärken und vor allem Ressourcen die Menschen hätten, die zu ihr kommen. Oft erzählten ihr die Klienten, sie seien einsam. „Durch Nachfragen finde ich dann heraus, welche Menschen und vielleicht auch Angehörige es im Umfeld gibt, mit denen sie den Kontakt verstärken oder die helfen könnten.“
Das Projekt soll auf andere Stadtteile ausgeweitet werden
Das Modellprojekt läuft bis Juni 2025, wird wissenschaftlich begleitet, ausgewertet und soll dann eventuell auf andere Stadtteile ausgeweitet werden. „Wir haben die beiden Stadtteile als Modellregion ausgesucht, weil wir wollten, dass die beiden Beraterinnen sich dort auskennen und gut vernetzt sind. Aber wir machen gerade die Erfahrung, dass Anfragen aus dem ganzen Stadtgebiet kommen“, sagt Steffen Sauthoff im Podcast. Er leitet und begleitet das Projekt auf der fachlichen Ebene.
Für die Beratungsstelle wurden ganz neue Jobprofile entwickelt. Der Unterschied zu anderen Projekten sei, dass es hier vor allem um die Willenserkundung der Klienten gehe. „Die Beraterinnen müssen gut zuhören und sich dabei zurücknehmen können. Denn es geht nicht primär darum, Angebote zu machen, sondern den Veränderungswillen des Anfragenden in den Mittelpunkt zu stellen“, sagt der 56 Jahre alte Theologe, der lange als Abteilungsleiter bei der Stiftung Alsterdorf und als Quartierslotse gearbeitet hat.
Manche werden mehr als sechs Monate begleitet
Seit Einführung des Projekts im September 2021 gab es rund 100 Anfragen. „Mit manchen Klienten arbeiten wir schon länger als ein halbes Jahr zusammen, andere kommen zu einem Beratungsgespräch und wissen danach, wie es für sie weitergeht. Meine Kollegin und ich beraten ungefähr immer zehn Menschen gleichzeitig“, sagt Antje Nötzel.
Seit längerem begleitet sie schon einen 21 Jahre alten Rollstuhlfahrer, der von zu Hause ausgezogen ist und statt in einer Werkstatt zu arbeiten, gern eine Ausbildung machen möchte. „Er wollte etwas mit Kindern machen. Aber er hatte keine Erfahrungen mit ihnen. Also habe ich in Barmbek eine Kitaleiterin gesprochen, die ihm ein Praktikum ermöglicht hat. Er hat ein tolles Feedback bekommen“, sagt Nötzel.
Früher immer sofort ein Angebot im Kopf
Die Sozialpädagogin hat früher als Angebotsberaterin gearbeitet. „Da hatte immer gleich im Kopf, was für den Ratsuchenden passen könnte. Jetzt warte ich darauf, dass die Ideen von der Person kommen. Das Spannende bei der Arbeit finde ich die unterschiedlichen Themen, mit denen wir konfrontiert werden. Ich bin durch die intensiven Gespräche ganz nah an den Menschen dran“, sagt Nötzel.
Frustrierend seien jedoch oftmals die Grenzen in der Gesellschaft, „wenn ein Mensch mit Behinderung hoch motiviert ist und selbstständig wohnen möchte, aber es keine Wohnung für ihn gibt oder sich kein Arbeitgeber findet.“ Das sei jedoch auch ein Teil des Projekts, Lücken und Barrieren im System zu finden und diese zu verändern, ergänzt Sauthoff.
Kontakt: Antje Nötzel und Anne Reichardt, Eckmannsweg 11, Tel. 607 783 040, E-Mail: info@leben-wie-ich-will.net, www.leben-wie-ich-will.net
Der ganze Podcast unter: https://www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch/