Hamburg. Für sehbehinderte Menschen gibt es noch bis zum Jahresende Führungen zum Anfassen in elf Hamburger Ausstellungshäusern.
Ulla Weichlein steht mit einem Körbchen in der Hand in der historischen Bauernstube des Altonaer Museums und fragt in ihre Gruppe: „Wie riecht es in einem alten Bauernhaus?“. „Etwas muffig“, sagt die eine, „nach Tieren“, wirft eine andere ein. „Rauchig“ ist eine weitere Assoziation. Auf das Stichwort hatte die Kulturvermittlerin nur gewartet. Sie reicht kleine Gläschen gefüllt mit Wattebäuschen herum, die mit Rauchgeruch getränkt sind.
Willkommen beim Museum zum Anfassen! Bis mindestens Ende des Jahres machen elf Hamburger Museen bei dem neuen inklusiven Angebot mit, das über den Museumsdienst Hamburg vermittelt wird. Neu sind dabei vor allem die Materialkoffer, die jede Museumspädagogin nun dabei haben wird. „Darin sind Objekte und Repliken zum Ertasten, Riechen und Hören. Sie sind passend zum sinnlichen Erfahren der unterschiedlichen Sammlungen“, erklärt Anika Stracke, Projektleiterin Inklusion beim Museumsdienst, im Podcast „Von Mensch zu Mensch“.
Gliederpuppen, Duftaromen und Tierstimmen
So könnten Besucher in der Kunsthalle anhand von Gliederpuppen, tastbaren Schwellkopien und erhabenen Moosgummi-Nachbildungen Grundrisse und Kunstwerke nachspüren. Kakao-, Kaffee- und Kautschukproben, Duftaromen und Gewürze lassen die Schifffahrt und den Seehandel im Internationalen Maritimen Museum lebendig werden. Schiffsmodelle zum Anfassen gibt es im Deutschen Hafenmuseum (im Aufbau). Mit Audiospuren von Tierstimmen sowie Präparaten und Schädelabgüssen tauchen Interessierte im Museum der Natur in zoologische Themen ein. Repliken von Harpunen und Steinzeitfeuerzeugen befinden sich im Materialkoffer des Archäologischen Museums und verdeutlichen so das harsche Leben in Hamburg früher.
„Beim Museumsdienst buchen pro Jahr rund 250.000 Menschen eine Führung, aber darunter sind nur wenige Menschen mit Beeinträchtigungen. Das wollen wir mit diesem Projekt ändern“, sagt Stracke.
Insgesamt 38 Führungen wurden konzipiert
Seit dem Frühjahr haben Kulturvermittlerinnen wie Ulla Weichlein die insgesamt 38 Führungen zum Anfassen konzipiert. 14 verschiedene werden ab sofort für Blinde und Seheingeschränkte, etwas später im Herbst weitere für Menschen mit Down-Syndrom oder Autismus angeboten. „Ich bin selber mit verbundenen Augen durch die Ausstellungsräume gelaufen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie ein blinder Mensch sich fühlt“, berichtet Museumspädagogin Weichlein, die für das Altonaer Museum eine 90-minütige Führung für Seheingeschränkte zur Dauerausstellung „Mythos Landleben“ entwickelt hat.
Bei dieser erklärt sie den früheren Alltag der Bauern. Die Utensilien aus ihrem Materialkorb hat sie sich von Flohmärkten, aus Secondhand-Läden und sogar aus dem Familienbesitz zusammengesucht. „Viele Gegenstände dürfen im Museum nicht angefasst werden, deswegen habe ich versucht, möglichst viele ähnliche, authentische Dinge zu erwerben“, sagt Weichlein.
Begleitend zum Ölbild einer Bäuerin, die Kaffee aus einer blau-weißen Porzellantasse trinkt, holt sie ein ähnlich gemustertes Geschirr aus dem Korb und reicht es an die Gruppenteilnehmer weiter. Die vier älteren Frauen und ein Mann sind alle blind oder seheingeschränkt. Sie gehören der Fachgruppe Kultur des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg (BSVH) an, die sich für mehr Teilhabe ihrer Mitglieder am Kulturleben einsetzt.
Keine Vorstellung von Farben und Größen
Mit dabei auch André Rabe, der Ulla Weichlein beim Konzept der Führung beraten hat. „Eigentlich gehe ich gern in Museen, aber die vielen Verbotsschilder und Absperrungen, die es gibt, haben mir die Besuche vergällt. Auch habe ich als Geburtsblinder keine Vorstellung von Farben und Größen, da nützt mir eine normale Audioführung wenig“, erzählt der zweite Vorsitzende des BSVH im Podcast „Von Mensch zu Mensch“. Deswegen beschreiben die geschulten Museumspädagogen nun Bilder und Gegenstände anders. „Anstatt einem Meter sagen sie hüfthoch oder versuchen bei einem Werk, das Nebel zeigt, zu beschreiben, wie der sich anfühlt“, erklärt Projektleiterin Stracke.
Für Ulla Weichlein ist genau das die größte Herausforderung: Worte dafür zu finden, was andere einfach sehen können. „Ich habe jeden Schritt durchdacht, eine sehr sorgfältige Auswahl an Objekten getroffen, die ich zeige und beschreibe“, sagt die erfahrene Kulturvermittlerin, die auch Führungen für Demente anbietet. Zum Thema Ernte lässt sie ihre Gruppe in ein Säckchen mit Heu hineinschnuppern, der offene Kamin, in dem verschiedene Kupfertöpfe hängen, darf angefasst werden.
Häufig bei Senioren: altersbedingte Makulaturdegenartion
„Ich finde diese Art der Führung wunderbar, da eröffnet sich mir eine ganz neue Welt“, sagt Erika Asendorf während ihre Hand am Rand eines Topfes entlang gleitet. Die 70-Jährige leidet seit zwei Jahren an einer altersbedingten Makulaturdegenartion (AMD) – einer chronischen Erkrankung meist beider Augen, der eine Störung des Stoffwechsels zugrunde liegt und in den Industrieländern die häufigste Ursache für starke Sehbehinderungen bei Senioren ist.
Eine Retinitis Pigmentosa hat Ula Michalski hat schon im Teenager erblinden lassen. Die ehemalige Hörfilmautorin geht oft ins Museum, begleitet von ihrem Mann, der ihr dann alle Bilder und Gegenstände beschreiben und die Tafeln vorlesen muss. „So eine Führung zum Anfassen entlastet meinen Mann nicht nur, sondern ist auch etwas ganz Besonderes für mich. Denn so kann ich viel mehr auch die Atmosphäre des Raums genießen, mich mit anderen aktiv austauschen, was wir gerade erforschen“, sagt die 78-Jährige.
Ein alter Ziegel gibt Rätsel auf
Gerade hat Ulla Weichlein einen Ziegel herumgereicht, ähnlich denen, mit denen die Hauswand des alten Bauernhauses aufgebaut ist – und doch anders. „Da ist eine Vertiefung, vielleicht ein Art Stempel drin“, sagt André Rabe. Gemeinsam löst die Gruppe das Rätsel: Ein Tier muss über den noch feuchten Ziegel gelaufen sein und hat seinen Abdruck hinterlassen.
Am Ende der Führung sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmern sich einig, dass sie nicht nur Blinden Spaß macht, sondern auch spannend für Kinder und sehende Erwachsene ist. „Ich würde mir wünschen, wenn die Gruppen künftig nicht nur aus Menschen mit Behinderung bestehen würden, sondern auch davon Nicht-Betroffene dabei sind. Denn dann sind sie erst wirklich inklusiv“, so Stracke.
Für alle inklusiven Gruppenangebote gelten stark ermäßigte Führungsentgelte. Interessierte vereinbaren ihre Führung mit Wunschtermin telefonisch über den Museumsdienst Hamburg unter 040/428 131 0 oder per Mail an info@museumsdiensthamburg.de. Infos: https://museumsdienst-hamburg.de/inklusive-zugaenge-in-hamburgs-museen
Die ganze Folge unter www.abendblatt.de/podcast/Von-Mensch-Zu-Mensch