Besuch im CAP-Supermarkt in Hamburg-Barmbek. Hier sind Menschen mit Behinderung tätig. Ein gelungenes Inklusionsprojekt.

Carmen Möller sitzt an Kasse 1, ihrem Arbeitsplatz im CAP-Markt in Barmbek-Süd im Alstercity Shopping Centre. Souverän und freundlich lächelnd kassiert sie, nachdem sie die Waren der Kunden auf dem Laufband gescannt hat. „Meine Kassenabrechnung stimmt immer“, sagt die 29 Jahre alte Supermarktmitarbeiterin stolz. Im Hintergrund spielt leise Musik, ihre Kollegen und Kolleginnen sortieren Artikel in die Regale, verkaufen Backwaren, bestücken den Salattresen oder fegen den Boden. Der CAP-Markt ist aber kein Supermarkt wie jeder andere. Dort qualifiziert die Elbe-Werkstätten GmbH die Beschäftigten im Berufsfeld Lebensmitteleinzelhandel. Langfristiges Ziel ist, dass sie irgendwann im allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Unterstützt werden sie von drei Gruppenleitern – der Betreuungsschlüssel bei den Elbe-Werkstätten ist eins zu zwölf.

CAP ist abgeleitet von Handicap, der englischen Bezeichnung für Benachteiligung. Zwei Drittel der 30 Beschäftigten im CAP-Markt leben mit einem Handicap, sind kognitiv, psychisch, körperlich oder mehrfach behindert. Menschen, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, gelten rechtlich als voll erwerbsgemindert, das heißt: Sie stehen dem allgemeinen Arbeitsmarkt weniger als drei Stunden täglich zur Verfügung. Sie erhalten ein Entgelt, sind sozialversichert, einige bekommen zudem Grundsicherung oder Erwerbsminderungsrente. Carmen Möller verdient 300 Euro netto im Monat.

Besonders freundliche Atmosphäre

Seit 2003 haben die Elbe-Werkstätten Erfahrung im Betrieb von Lebensmittelmärkten, im Oktober 2007 wurde der CAP-Markt in der AlsterCity – einem Bürokomplex mit knapp 4500 Angestellten – eröffnet. Die Regale des Supermarkts sind nicht sehr hoch und alle Wege führen zur leichteren Orientierung schräg angeordnet Richtung Kassen. Metallstoßstangen über dem Boden verhindern, dass Rollstuhlfahrer unten gegen ein Regal stoßen. Bundesweit gibt es zurzeit etwa 100 CAP-Supermärkte. Sie funktionieren nach dem Franchise-Prinzip. Vor Ort betreibt immer eine soziale Einrichtung als Franchise-Nehmer den Markt.

Karen Walter, Geschäftsführerin der Psychotherapeutenkammer, hat im CAP-Markt gerade eingekauft, für sich und „unser Büro. Ich mag hier die freundliche Atmosphäre und finde die Kooperation mit den Elbe-Werkstätten sehr wichtig. Denn jeder Mensch hat seine besondere Begabung.“ Für ihr seit einigen Monaten bestehendes Büro sei deshalb extra dieser Ort gewählt worden, „und wir fühlen uns alle sehr wohl damit“, sagt die 46-Jährige. „Mein Lieblingskassierer hier sagt immer: ,Haben Sie einen schönen Tag und bleiben Sie gesund!‘ Sie ziehe auch den Hut vor den Anleitern, die den Beschäftigten alles so lange geduldig erklärten, bis es verstanden und umgesetzt wird.

Einer der größten Arbeitgeber der Region

„Wir sind hanseatisch, weltoffen, selbstbewusst“, heißt es im Leitbild der Elbe-Werkstätten, die gerade ihr 102. Jubiläum feiern. Das bedeute: nicht allein an sich zu denken, sondern mit mindestens gleicher Hingabe auch an andere, besonders Schwächere. Heute sind die Elbe-Werkstätten einer der größten Arbeitgeber in der Region und schaffen vielfältige Teilhabe-Möglichkeiten für Menschen mit Unterstützungsbedarf. „Das Fachpersonal versteht sich als Assistentinnen und Assistenten der Menschen mit einer Behinderung, und wir erarbeiten gemeinsam eine Berufswegeplanung“, sagt Rolf Tretow, Sprecher der Geschäftsführung.

Rolf Tretow und Carsten Harloff (r.) sprechen im Podcast Von Mensch zu Mensch über ihrer Arbeit bei den Elbe-Werkstätten.
Rolf Tretow und Carsten Harloff (r.) sprechen im Podcast Von Mensch zu Mensch über ihrer Arbeit bei den Elbe-Werkstätten. © Sabine Tesche (FMG) | Sabine Tesche (FMG)

Ilka Anders, als Diplom-Sozialpädagogin seit 30 Jahren beratend im Werkstätten-Bereich tätig, ist zuständig für 60 Klienten. „Meine Aufgabe ist: für Menschen, die jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hätten, den für sie richtigen Arbeitsplatz zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu finden. Wir sind der zweite Arbeitsmarkt – deshalb steht auch die Behörde im Hintergrund.“

Die Arbeit bietet Sicherheit

So wird Carmen Möller jedes Jahr wieder von ihr gefragt, ob sie sich den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt vorstellen könnte. Denn sie wäre nach einem Jahrzehnt Arbeitserfahrung und Fortbildung eventuell dazu in der Lage. Sie arbeitet Vollzeit, ist pünktlich, zuverlässig, kommt mit den Kunden und dem Schichtdienst gut zurecht. „Ich würde mich darüber zwar sehr freuen“, sagt Anders, „doch es ist kein Zwang.“ Allerdings muss sie die weitere staatliche Finanzierung für jeden Beschäftigten immer wieder neu begründen. Carmen Möller möchte bisher nicht woandershin wechseln, da sie sich im CAP-Markt wohlfühlt und es ihr Sicherheit gibt, die Arbeitsabläufe genau zu kennen.

Bei den Elbe-Werkstätten gibt es 3000 Werkstatt-Plätze für Menschen mit Behinderungen an 50 Orten in Hamburg. In 30 Außenarbeitsgruppen sind 200 Mitarbeiter zudem tätig in anderen Firmen, an sogenannten ausgelagerten Arbeitsplätzen, die keine Werkstatt für Menschen mit Behinderung sind. 1920 wurde die „Hamburger Werkstatt für Erwerbsbeschränkte“, die spätere Hamburger Werkstatt, auf Betreiben des Hamburger Arbeitsamtes gegründet, um vorrangig arbeitslose Kriegsversehrte, aber auch andere Menschen mit Behinderungen zu qualifizieren und wieder in den Arbeitsalltag und in die Gesellschaft zu integrieren. Im Zuge einer Fusion 2011 wurden die Hamburger Werkstatt ebenso wie die Winterhuder Werkstätten mit der Elbe-Werkstätten GmbH vereint. Eigentümer der Elbe-Werkstätten sind die Freie und Hansestadt Hamburg, die Hamburger Stiftung Rehabilitation und Integration und der Verein für Behindertenhilfe e. V.

Gegründet wurden die Werkstätten für Kriegsinvalide

Schon immer mussten sich die Werkstätten für Erwerbsbeschränkte in Hamburg den sich ändernden Umständen anpassen, und das bereits in den Anfangsjahren, als die einzelnen Werkstätten wegen der Zerstörung in den beiden Weltkriegen permanent umzogen. Während in den Jahrzehnten nach der Gründung Behinderte und Kriegsinvaliden noch Bürsten, Schuhe oder Zigarren fertigten oder in Wäschereibetrieb, Tischlerei, Polsterei, Weberei oder Buchbinderei arbeiteten, haben sich die Tätigkeiten inzwischen erweitert – unter anderem durch Kooperationen mit Unternehmen.

Heute sind die Elbe-Werkstätten regional eingebunden in Bezirke und Stadtteile vor Ort. Die Beschäftigten arbeiten intern und extern, zum Beispiel in den Bereichen Cafeteria, Großküche, Metall und Elek­tromontage, Textil, Verpackung und Konfektionierung, Gartenpflege, Büro-Service-Arbeiten und Lager und Logistik – außerdem in Außenarbeitsgruppen in Museen oder im Lebensmitteleinzelhandel in den CAP-Märkten. Auch der Abendblatt-Verein nahm bisher immer gerne die Arbeit von Mitarbeitern der Elbe-Werkstätten in Anspruch: In Winterhude wurden die 8000 Weihnachtspäckchen der jährlichen Spendenaktion gepackt.

Corona-Pandemie machte 100-Jahr-Feier unmöglich

Das 100. Jubiläum der Elbe-Werkstätten sollte schon 2020 groß gefeiert werden, doch die Corona-Pandemie machte das unmöglich. Nun gibt es die Ausstellung „102 Jahre Elbe-Werkstätten – 102 Jahre Teilhabe in Hamburg“, zu sehen in der Hamburger Rathausdiele. Ziel der Ausstellung sei, die Entwicklung des Teilhabesystems für Menschen mit Behinderungen in Hamburg von den Anfängen der „Hamburger Werkstatt für Erwerbsbeschränkte (Kriegsinvaliden und Menschen mit Behinderungen)“ bis hin zu den Elbe-Werkstätten als modernem Wegbereiter der Inklusion zu zeigen. „Wir freuen uns sehr, das Thema Inklusion durch diese Ausstellung nun auch einer möglichst breiten Öffentlichkeit nahezubringen“, sagt Geschäftsführer Tretow.

Carmen Möller kann sich an ihrem Arbeitsplatz ihren Fähigkeiten entsprechend täglich beweisen, findet hier Struktur und Wertschätzung. „Ich bin zufrieden“, sagt sie, „manchmal loben die Kunden mich auch. Sie sind oft überrascht, wie ich die Ruhe bewahre.“ Sie habe inzwischen auch gelernt, Nein zu sagen, wenn sie etwas nicht möchte. Ilka Anders ergänzt: „Was zugesagt oder versprochen wurde, muss bei dir immer eingehalten werden, sonst setzt es dich unter Stress.“ Ja, möglichst solle alles planmäßig laufen, sagt Möller. Das ist eben das Spezielle an den Elbe-Werkstätten. Mithilfe von Anleitern werden die Mitarbeiter gezielt nach ihren Fähigkeiten eingesetzt und erhalten Angebote, an sich selbst zu arbeiten und sich fortzubilden.

Ausstellung „102 Jahre Elbe-Werkstätten – 102 Jahre Teilhabe in Hamburg“: Bis 16. September in der Rathausdiele, Öffnungszeiten des Hamburger Rathauses: Mo.–Fr. 7–19 Uhr, Sa. 10–18 Uhr, So. 10–17 Uhr

Der Podcast zum Thema unter: https://www.abendblatt.de/podcast/von-mensch-zu-mensch/