Stephanie Balke kam mit acht Jahren in eine Pflegefamilie. Dort wurde ihr Musiktalent gefördert. Jetzt unterstützt sie selber Kinder.

Fast entrückt sitzt Stephanie Balke auf der Bank unter einem Apfelbaum in ihrem Garten und singt. Dazu zupft sie auf der Gitarre, ihr kecker Hut wippt im Takt auf und ab. Das Geschehen um sie herum, der Fotograf, der immer wieder auf den Auslöser drückt, scheint vergessen. Die 32-Jährige ist ganz bei sich und ihrer Musik. „Das war schon immer so. Als Kind war die Musik für mich ein Fluchtort. Wenn ich unter der Bettdecke war, habe ich das Chaos und die Angst einfach weggesungen“, sagt die junge Frau. Offen spricht sie über ihre Vergangenheit, über ihre Zeit als Pflegekind und wie ihr Talent ihr nun dabei hilft, anderen Kindern aus schwierigen Verhältnissen Zugang zur Musik zu ermöglichen – und damit auch Zugang zu ihren Emotionen. „Stephanie Balke ist eine Mutmacherin für Pflegekinder und Pflegeeltern“, sagt Ralf Portugall, Sprecher der Hamburger Pflegekinderhilfe.

Stephanie Balke ist acht Jahre alt, als das Jugendamt sie und ihre beiden Brüder – der eine vier Jahre älter, der andere sechs Jahre jünger – aus der Wohnung ihrer Mutter holt und zu Pflegefamilien gibt. Die Mutter ist alkoholkrank und mit der Versorgung der drei Kinder vollkommen überfordert. „Ich habe quasi mit sechs Jahren die Mutterrolle für meinen kleinen Bruder übernommen, ihn gefüttert und gewickelt“, erinnert Balke sich. Gleichzeitig hat ihr älterer Bruder sich mit zehn Jahren in eine Vaterrolle eingefunden, fühlt sich verantwortlich dafür, das Chaos nicht auffliegen zu lassen.

Freunde sollen nicht mit den Schmuddelkindern spielen

„Er wollte nicht weg, er hat verzweifelt versucht, die Familie zusammenzuhalten, aber ich hatte immer die Hoffnung und dafür gebetet, dass es ein anderes Leben für mich gibt.“ Dabei hatte ihr Leben als Kind einer bürgerlichen, gut situierten Familie angefangen. Sie wohnen zu viert im Kreis Pinneberg, in einem Einfamilienhaus, bis der Vater eines Nachts verschwindet, seine hochschwangere Frau und die beiden Kinder mit vielen Schulden zurücklässt. „Meine Mutter musste wieder auf den Hof ihrer Familie ziehen, das hat sie nicht verkraftet“, sagt Balke.

Vielfach erlebt die Tochter ihre Mutter teilnahmslos auf der Couch liegend, die Männer wechseln, einer wird ihr gegenüber übergriffig. Stephanie Balke erfährt, dass andere Kinder nicht mit ihr spielen sollen. „Ich konnte meine Freunde nur heimlich treffen, wir waren die Schmuddelkinder.“ Eine Erniedrigung, die sich tief in ihre Erinnerung eingeprägt hat. Als das Jugendamt eingreift, ist Stephanie Balke ein Kind, das ein großes Bewusstsein für Ungerechtigkeit entwickelt hat und gleichzeitig lernen musste, dass auf niemanden Verlass ist außer auf sich selbst.

Die Geschwister kommen in unterschiedliche Familien

Übergangsweise kommen sie und ihre Brüder in Bereitschaftspflege und dann in drei unterschiedliche Pflegefamilien. „Am Anfang wollte ich nicht von meinem kleinen Bruder getrennt sein, ich hatte große Angst um ihn. Aber für unsere individuelle Entwicklung war das genau richtig“, sagt Balke. Als sie Petra und Stefan Schüddekopf bei einem „Schnupperwochenende“ kennenlernt, ist für die damals Achtjährige sofort klar: „Zu denen will ich.“ So erinnert es auch ihr Pflegevater: „Stephanie hat uns ausgesucht und wir durften sie ab da begleiten.“

Das Paar hat keine leiblichen Kinder, es absolvierte einen Vorbereitungskurs für Pflegeeltern, stellt jedoch schnell fest, dass dieser die beiden nicht darauf vorbereitet hat, „dass jedes Pflegekind Dinge erleben musste, die man sich nicht vorstellen möchte. In manchen Situationen wussten wir nicht, wie man mit einem traumatisierten Pflegekind umgehen muss“, sagt Stefan Schüddekopf. Denn all die Werte, die einem selbst wichtig sind, das Wiederkennen von Verhaltensmustern, die man bei einem leiblichen Kind erlebt, fallen bei einem fremden Kind weg. „Man erhält eine fertige Persönlichkeit“, sagt der 61-Jährige. Dennoch nehmen er, damals als Unternehmensberater tätig, und seine Frau, eine Grundschullehrerin, zwei Jahre später noch einen Jungen als Pflegekind auf.

Der Kinderchor wird zum Glücksort

Sie bieten den beiden Kindern ein Zuhause mit Halt und Geborgenheit, Musik und Kultur, aber auch mit festen Regeln. Der Vater spielt Gitarre, die Mutter leitet einen Kinderchor in der Kirchengemeinde, der für Stephanie Balke zu einem Glücksort wird. Hier fühlt sie sich angenommen, geht gemeinsam mit den Gleichaltrigen auf Tour, lernt Querflöte und „konnte durch meine Musik und besonders den Gesang viel von meinem erlebten Trauma verarbeiten. Beim Singen spüre ich mich“, erzählt Balke.

Die Schule fällt ihr leicht, sie ist eine gute Schülerin, aber bei den anderen Kindern ist sie nicht gut gelitten. Sie ist ein ernstes Mädchen, frühreif, immer an der Seite der Schwachen, gibt lieber Kontra, als mit der Menge zu schwimmen. „Ich war ziemlich besserwisserisch, habe immer für etwas gekämpft, das fanden die anderen doof“, sagt sie. Manchmal, wenn sie sich schlecht benommen hat, versteckt sie sich im Schrank, „ich dachte öfters, meine Pflegeeltern opfern ihre Zeit, womit habe ich so viel Liebe von ihnen verdient?“

Die leibliche Familie sitzt immer mit am Tisch

Stephanie Balke und Stefan Schüddekopf hören häufig, dass das Mädchen dem Pflegevater so ähnlich sei. „Wenn jemand sagt, ,ganz der Papa‘, dann lächeln wir beide immer. Auf der einen Seite ist Stephanie meine Tochter, auf der anderen Seite war uns und ihr immer klar, dass sie leibliche Eltern hat. Auch das müssen potenzielle Pflegeeltern wissen: Die leibliche Familie sitzt immer mit am Tisch“, sagt Stefan Schüddekopf.

Die Pflegeeltern ermöglichen ihrer Pflegetochter ein Auslandsjahr in Irland. Als sie zurückkommt, ist sie volljährig und erfährt vom Jugendamt, dass ihre Pflegschaft nun vorbei sei. „Wir alle wurden nicht darauf vorbereitet, sondern einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Der Beamte sagte damals, dass es sehr ungewöhnlich sei, dass ein Pflegekind Abitur mache, die meisten machten eine Ausbildung“, sagt der Pflegevater und man merkt ihm an, wie sehr ihn diese Aussage heute noch empört. Mit 18 Jahren bezieht Stephanie Balke ihre eigene Wohnung, bekommt Schüler-BaföG, macht ein gutes Abitur und studiert anschließend Gesangspädagogik.

Pflegekinder liegen ihr besonders am Herzen

Sie leitet Chöre, gibt Einzelunterricht und gründet 2018 eine eigene, mobile Musikschule, in der ihr Vater Mit-Geschäftsführer ist. Ein Schwerpunkt der Schule sind musikalische Angebote wie Instrumentenbau, Bandprojekte oder Videodrehs für Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten. Unter den Teilnehmern sind immer wieder Pflegekinder, denn sie liegen Balke besonders am Herzen, sie möchte Pflegekinder besonders fördern.

Ein Projekt ihrer Musikschule Baumgartmusik gGmbH (www.baumgartmusik.de) wendet sich sogar ganz speziell an diese Mädchen und Jungen sowie an deren Geschwister. In „be*You*tiful Sound“ geht es darum, dass diese Kinder singen oder mit anderen am Instrument hörbar ihre Geschichte erzählen. „Ich möchte für Pflegekinder eine Lobby schaffen. Sie sind oft ungehört, werden von anderen als laute, störende Kinder erlebt. Ich will ihnen mit meiner Geschichte und Arbeit zeigen, dass sie nicht alleine sind. Dass man an der eigenen Situation wachsen und aus ihr herausfinden kann – und dass daraus etwas Schönes entstehen kann.“

Mit einer Telefonaktion am 28.8. zwischen 14-16 Uhr informieren Pflegeeltern und Fachkräfte u. a. darüber, wie man in Hamburg Pflegefamilie wird und wie der Alltag mit Pflegekindern aussieht. Die Ansprechpersonen und ihre Telefonnummern gibt es am 28.8. unter www.pflegefamilie-werden.info

Allgemeine Infos unter Tel. 040/41 09 84 60, www.pfiff-hamburg.de