Hamburg. In der Podcast-Reihe “Von Mensch zu Mensch“ stellen wir Personen vor, die Mut machen. Premierengast ist die Sportlerin Edina Müller.
Es gibt diese Urangst vermutlich jeder Mutter, dass ihr Kleinkind davonläuft und sie nicht hinterherkommt. Wie geht eine junge Mutter im Rollstuhl damit um? Edina Müller ist dabei ganz pragmatisch. Zum einen hat die 37-Jährige für ihren Sohn Liam einen Rucksack, an dem eine Leine befestigt ist.
„Die merkt er gar nicht, aber ich habe dadurch mehr Sicherheit“, sagt Müller im neuen Podcast „Von Mensch zu Mensch“, „zum anderen möchte das Kind selbst nicht in eine Situation kommen, in dem man ihm nicht helfen kann.“ Sie erzählt davon, wie sie mit dem Zweijährigen im Beachvolleyball-Zentrum war: „Mein Sohn ist nicht weiter auf den Sand gegangen, weil ich nicht hinterherkomme.“
Rollstuhlbasketballerin Edina Müller ist Paralympics-Siegerin
Volleyball war für die Spitzenathletin als Jugendliche ihre Leidenschaft – nun ist sie Paralympics-Siegerin im Rollstuhlbasketball und wurde nach einem Wechsel der Sportart Welt- und Europameisterin im Einer-Kajak. Eine Sportverletzung durch Volleyball löste bei ihr als 16-Jährige das Drama ihres Lebens aus.
Sie ging mit Rückenschmerzen zum Orthopäden. „Beim Einrenken ist mein Rückenmark verletzt worden, es hat angefangen zu bluten und das hat auf die Nerven gedrückt. Leider wurde das nicht sofort erkannt“, sagt sie. Erst einen Tag später wurde sie operiert. Zu spät. Seither ist sie von der Hüfte abwärts querschnittsgelähmt.
Trauer über den Schicksalsschlag überwunden
Die gebürtige Brühlerin kann inzwischen locker darüber berichten, sie hat ihre Wut und Trauer über diesen Schicksalsschlag längst überwunden. Edina Müller ist ein positiver, fröhlicher Mensch. Und so hat sie sich auch danach als Jugendliche erst mal ausgetobt.
„Ich habe viel gefeiert, wenig für die Schule getan. Als ich mit 19 kurz vor dem Abi stand, überkam mich ein Tief. Ich wusste nicht, wie es weitergehen soll.“ Zum Glück war ihre alleinerziehende Mutter die ganze Zeit an ihrer Seite. „Irgendwann machte es klick, und man weiß, dass man sein Leben weiterleben muss. Meine Mutter und ich haben uns wahnsinnig gut arrangiert und das zusammen gemeistert.“
Heute weiß die Sporttherapeutin, die am BG Klinikum Boberg mit querschnittsgelähmten Patienten arbeitet, dass eine Trauerphase wichtig ist, um solch ein Trauma zu verarbeiten. Sie sieht sich als Wegbereiterin ihrer Patienten in ein selbstständiges Leben.
„Es ist eine sehr befriedigende Arbeit, weil ich die Situation der Patienten kenne, die gerade eine Behinderung erworben haben. Viele können sich ein Leben im Rollstuhl nicht vorstellen.“ Viele ihrer Patienten hätten große Ängste, wie sie den Alltag künftig bewerkstelligen könnten, manche hätten gerade ein Haus gebaut, das nicht barrierefrei sei, oder könnten nicht in ihren Beruf zurück. „Ihnen kann ich helfen, eine Perspektive zu bekommen.“
Das mache sie allerdings nicht, indem sie mit ihren Gold- und Silbermedaillen durch das Klinikum fahre, sondern „ich beschreibe meinen Weg dahin, auch mein Hadern mit der Situation und meine schwierigen Phasen“. Sie gibt aber zu bedenken, dass es vermutlich leichter ist, mit einer Querschnittslähmung zurechtzukommen, wenn man sie früh im Leben erwirbt. „Ich konnte mir meinen Weg daraufhin ausrichten.“
US-Sportstipendium für Rollstuhlbasketball
Für Edina Müller hat der Leistungssport im Rollstuhlbasketball einen wichtigen Karriereschub gegeben. Sie bekam 2006 ein Sportstipendium der Universität von Illinois, USA, eroberte dort mit der Universitätsmannschaft im Rollstuhlbasketball in beiden Jahren die National Championships. Tief beeindruckte sie, wie sehr Inklusion in der amerikanischen Gesellschaft gelebt wird. „Es fängt alleine damit an, dass es in den USA überall – in Kneipen, Einkaufszentren, Restaurants – barrierefreie Toiletten für Männer und Frauen gibt. Ich war einfach immer mit dabei. Das ändert den Blick der Mitmenschen enorm.“
Mit einem Bachelor in Bewegungslehre kehrte sie nach Deutschland zurück, machte dort ein Diplom in Rehabilitationspädagogik. Gleichzeitig bekam sie mit dem deutschen Rollstuhl-Basketballteam goldene und silberne Medaillen bei den Paralympics, Europa- und Weltmeisterschaften. 2014 wechselte Edina Müller in den Parakanu-Sport und qualifizierte sich bei den nationalen Qualifikationen im April 2015 direkt für die deutsche Parakanu-Nationalmannschaft.
Ein Glückskind, auch in Liebesbeziehungen
Eigentlich wollte sie Kanufahren nur als Freizeitsport betreiben. „Aber als ich den Rennsport ausprobiert habe, bin ich hängen geblieben.“ Sie liebt daran, dass das Wasser barrierefrei ist, sie kann sich im Boot in jede Richtung bewegen „und ich bin in der Natur und fühle mich frei“, sagt sie begeistert. Zudem ist der Sport wirklich inklusiv, sie trainiert sowohl mit behinderten als auch mit nicht behinderten Kanuten.
Wer Edina Müller zuhört, erfährt wenig von ihren Zweifeln und Problemen – dafür ist sie entweder zu sehr Profi oder eben ein Glückskind, auch in Liebesbeziehungen. „Ich bin einfach sehr offen. Die meisten Menschen, die erst mal reserviert sind, warten darauf, dass man sie anspricht und ihnen das unangenehme Gefühl nimmt. Das mache ich und habe bisher nur positive Erfahrungen gehabt, auch mit Männern.“ Seit 2019 hat sie mit ihrem Partner einen Sohn.
Die Schwangerschaft war leicht, der Kugelbauch klein und sie innerhalb kürzester Zeit fit für die nächste Kanu-Meisterschaft. Probleme gab es allerdings bei der Beschaffung von Wickelkommode und Kinderwagen für Rollifahrer – die gibt es schlichtweg nicht.
„Das verwundert und ärgert mich. Die Verkäuferinnen sagten, das werde zu selten verlangt. Dabei kenne ich in meinen Bekanntenkreis mindestens 25 Mütter im Rolli.“ Sie überlegt, ein Webseite mit Tipps für diese Klientel zu erstellen. Noch ein Projekt mehr für Edina Müller.
Den ganzen Podcast mit Edina Müller anhören: