Hamburg. Der Assistenzhund von Susanne Aatz weicht allen Hindernissen aus. Tierärztin Nadja Steffen erklärt, wie sie die Tiere dafür trainiert.

Zielstrebig läuft Malte auf dem Gehweg in Richtung Europa Passage, dabei hält er sich immer links, orientiert sich an der Hauswand, das ist die Leitlinie. Sobald er jedoch die Straßenkante mit einer Pfote erreicht hat, stellt der schwarze Labrador sich quer vor seine Besitzerin Susanne Aatz. Damit zeigt er ihr die Straße an und bekommt dafür Lob und ein Leckerli. Es ist keine Ampel in der Nähe, also muss Aatz, die hochgradig sehbehindert ist, hören, ob ein Auto naht oder nicht. Scheint alles frei zu sein, auch der Hund geht ohne Zögern am Führbügel vorwärts.

Um in die Passage zu kommen, muss das Gespann durch die große Drehtür, der Boden ist grob gerillt. „Solche Böden mögen Hunde nicht. Damit sie dann im richtigen Moment durch die offene Drehtür führen, muss man viel mit ihnen üben“, sagt Nadja Steffen. Sie ist Führhundtrainerin und arbeitet viel mit Susanne Aatz zusammen, die Leiterin der Gruppe für Führhundhalter im Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg ist. Nadja Steffen hat die zwei Jahre alte Rosalie mitgebracht, eine zierliche Labradorhündin, die fast am Ende ihrer Ausbildung ist und im Juni an eine blinde Frau abgegeben wird.

Hundetraining: Große Drehtüren sind eine Herausforderung

Das Hundetraining in der Stadt ist ein sehr wichtiger Teil der einjährigen Ausbildung, denn hier gibt es so viele Hindernisse: Baustellen, Rampen, Kreuzungen, Busse, Außentische und Stühle, Schilder und eben auch Einkaufszentren. Rosalie zögert einen Moment an der großen Drehtür. „Normale Hunde laufen oft gegen die Scheibe“, sagt Steffen und hilft der Hündin. Für den achtjährigen Malte ist der Durchgang hingegen eine leichte Übung. Drinnen allerdings fehlt ihm und Susanne Aatz zunächst die Orientierung. „Ich würde ihm jetzt sagen: ,Such Schalter!‘ Dann würde er mich entweder zum Info-Desk oder einer Theke führen, wo ich fragen kann, wenn ich ein bestimmtes Geschäft suche“, erklärt Aatz.

Dann sagt sie: „Lift!“ Ihr Labrador schaut nach rechts und links und führt sie dann zu den gläsernen Aufzügen in der Mitte der Europa Passage – auch dafür bekommt er Lob und ein Leckerli. „Der Hund fährt zwar nicht gern Aufzug, aber offene Treppen, wie es sie hier gibt, hasst er noch mehr“, sagt die 45-Jährige.

Rolltreppen sind für Führhunde Tabuzonen

Die Treppe nimmt wiederum Rosalie ohne zu zögern in Angriff. Sie stellt sich etwas schräg mit beiden Vorderpfoten auf die erste Stufe und zeigt so Nadja Steffen das Hindernis an. Klar ist auch, dass die Hündin Steffen ganz rechts nach außen führt, damit diese das Geländer nutzen kann. Um die Rolltreppen führen beide Hunde sicher herum – das sind Tabuzonen, „weil die Hunde sich hier die Pfoten klemmen und wir blinden Leute fallen könnten“, erklärt Aatz. Sie hatte vor Malte schon vier Führhunde und fachsimpelt gerne mit Nadja Steffen über das beste Training für die Tiere.

 Nadja Steffen läuft mit Rosalie eine Treppe in der Europa Passage hoch Foto: Roland Magunia/Funke Foto Services
Nadja Steffen läuft mit Rosalie eine Treppe in der Europa Passage hoch Foto: Roland Magunia/Funke Foto Services © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia

Steffen, die zudem Tierärztin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie ist, züchtet ihre Labradore selber. Für sie sind diese meistens sehr ausgeglichenen und freundlichen Tiere die idealen Assistenzhunde – diese Rasse macht gemeinsam mit den Labradoodle rund 80 Prozent der Blindenführhunde aus. „Zu intelligent müssen sie gar nicht sein, denn sie sollen sich ja nach den Bedürfnissen der Menschen und nicht nach ihren eigenen richten“, sagt Steffen.

Malte hat einen unglaublichen Orientierungssinn

Für Susanne Aatz ist der Hund Hilfe, Kamerad, Stütze und auch mal Trost. „Er ist wie mein linkes Bein, ohne ihn gehe ich nicht mehr raus“, sagt Aatz, die nur noch Umrisse und Farben erkennen kann. Sie liebt Malte vor allem für seinen unglaublichen Orientierungssinn: Er muss einen Weg nur einmal laufen, dann findet er ihn auch wieder zurück. „Er hat mich immer sicher überall hingebracht, sogar mit Abkürzungen. Dabei führt er mich sicher auf allen Wegen, sowohl denen, die ihm vertraut sind, wie auch auf neuen Wegen“, sagt die studierte Diplom-Pädagogin. Einmal, als die beiden sich nachts in der Stadt verlaufen hatten und niemand da war, um zu helfen, hat Aatz zu Malte gesagt: „Such U-Bahn!“ Und er hat sie zu einer geführt.

„Die Hunde können nicht so gut sehen, aber sie nehmen Bewegung auch in großer Entfernung wahr. Am Führbügel sind sie sehr konzentriert, checken ständig die Umgebung und können auch hohe Hindernisse wie Schilder oder Pfähle anzeigen“, erklärt Steffen. Das war unter anderem ein Grund, warum Susanne Aatz sich mit 22 Jahren für einen Blindenführhund entschied. „Ich habe mir so oft den Kopf gestoßen“, sagt sie lächelnd und wird sofort ernst.

Blinde Frauen werden häufiger sexuell belästigt

Der Hauptgrund für den Hund war nämlich, dass sie häufig sexuell belästigt wurde. „Es kam vor, dass ich an der Ampel mit meinem Blindenstock stand und einer mir von hinten an die Brust fasste. Ich kann auch nicht zählen, wie oft mir an den Hintern gegriffen wurde. Behinderte Frauen werden doppelt so oft belästigt wie nicht behinderte Frauen“, erzählt sie und ergänzt, dass das, seit sie ständig einen großen schwarzen Hund neben sich hat, kein Problem mehr sei.

Inzwischen hat sie sich auch eine robuste Art zugelegt, sie begehrt sofort auf, wenn sie sich falsch oder ungerecht behandelt fühlt – wenn ihr zum Beispiel ein Restaurantbesitzer oder das Supermarktpersonal wegen des Hundes keinen Zutritt gewähren will. „Ich habe nun mal das Recht dazu, ihn mitzunehmen, er ist ein Hilfsmittel im Sinne des Gesetzes“, sagt Aatz. Deswegen wird er auch von der Krankenkasse bezahlt, dazu gibt es eine Futterpauschale und auch die Tierarztkosten werden zusätzlich übernommen.

Labrador Malit führt Susanne Aatz sicher durch die Drehtür
Labrador Malit führt Susanne Aatz sicher durch die Drehtür © Roland Magunia/Funke Foto Services | Roland Magunia

Zwischen 25.000 und 35.000 Euro kostet ein ausgebildeter Blindenführhund. Bevor die Kasse diesen Preis zahlt, müssen er und seine Besitzerin zuvor eine Gespannprüfung machen, die von unabhängigen Gutachtern beurteilt wird.

Die Nachfrage ist größer als das Angebot

Pro Jahr werden in Deutschland rund 300 Führhunde abgegeben, rund zwei Prozent der blinden Menschen haben einen. „So ein Tier macht Arbeit, muss beschäftigt, gekuschelt und gefüttert werden. Viele Menschen werden erst im Alter durch eine altersbedingte Augenerkrankung blind, sie wollen oft keinen Hund“, sagt Aatz.

Dennoch ist die Nachfrage viel größer als das Angebot. „Meine Hunde sind quasi schon vergeben, wenn sie geboren sind“, sagt Führhundtrainerin Steffen. Sie gibt sie als Welpen zunächst in Patenfamilien für ein Jahr, dort sollen sie sozialisiert werden, bevor sie zurück zu ihr zum Assistenzhundtraining kommen. „Allerdings ist nicht jedes Tier dann auch geeignet, etwa 40 bis 50 Prozent der Hunde sortiere ich für diese Ausbildung aus. Denn sie müssen nicht nur charakterlich, sondern auch gesundheitlich topfit sein.“

Bis zu 360 Stunden werden die Hunde trainiert

Seit 1992 hat sie die Führhundschule, um die Tiere auszubilden, muss sie einen Paragraf-11-Schein (Tierschutzgesetz) vorweisen können. Bis zu 360 Stunden trainiert sie die jungen Hunde in vor allem drei Hauptbereichen: gradlinig führen, rechts und links unterscheiden, Hindernissen am Boden und in der Höhe ausweichen oder anzeigen und Treppen, Aufzüge und Türen suchen.

Die 53-Jährige arbeitet mit einem Belohnungssystem – wenn ein Hund etwas gut macht, bekommt er ein Leckerli. Fehler werden nicht hart bestraft, sondern die Situation so lange wiederholt, bis sich die Tiere ein Hundebonbon verdient haben. Wenn sich ein sehbehinderter Mensch für einen ihrer Hunde entschieden hat, arbeitet sie noch einmal 80 Stunden mit dem Gespann. „Es muss nicht nur die Chemie auf beiden Seiten passen, sondern auch das Temperament, einem Langsamläufer gebe ich zum Beispiel keinen schnellen Hund an die Hand, auch die Schrittlänge der beiden sollte zueinander passen“, sagt Steffen.

Führhunde bitte nicht ohne Erlaubnis anfassen

In diesem Job wird man nicht reich, aber sie liebt das Hundetraining mehr als die reine Verhaltenstherapie. „Der Trainingserfolg ist bei den Assistenzhunden so viel höher als bei verhaltensauffälligen Hunden und ihren Haltern“, sagt die Tierärztin.

Susanne Aatz könnte sich ein Leben ohne Blindenführhund nicht mehr vorstellen – er gibt ihr Halt und Sicherheit, allerdings mag sie es nicht, wenn Menschen Malte einfach ohne Ankündigung anfassen. „Einmal bin ich mit Malte eine Treppe runtergelaufen, da hat ein Mann ihn einfach gestreichelt, ich wäre beinahe gefallen. Das geht nicht. Malte ist ein bildschöner Hund, aber er ist eben auch ein Arbeitstier.“

Führhundtrainerin Nadja Steffen sucht derzeit Patenfamilien für ihre Labrador-Welpen. Es ist eine gute Möglichkeit, eine Hundehaltung auszuprobieren, ohne sich gleich auf Jahre zu verpflichten. Kontakt: nadja@fuehrhunde.de, Tel. 040/ 317 30 19.