In der StuPoli versorgen angehende Ärzte kostenfrei Patienten ohne Krankenkasse. Der Abendblatt-Verein unterstützt das Projekt.
Es ist kalt und grau draußen und weil das Doppelfenster fast ununterbrochen offen steht, ist es auch im ärztlichen Behandlungsraum der Studentischen Poliklinik – kurz StuPoli genannt – sehr frisch. Die beiden Medizinstudenten und die Ärztin sind dick angezogen und wegen der Gefahr durch das Corona-Virus tragen sie einen weißen Overall, Masken und Handschuhe. Seit einer Stunde schon behandeln sie ununterbrochen obdachlose Menschen ohne Krankenversicherung, die sich in großen Abständen voneinander vor dem Fenster des Praxisraums versammelt haben.
Vor Corona kamen die Patienten durch die Räume des CaFée mit Herz, einer zentralen Anlaufstelle für Obdachlose auf St. Pauli, vor die Tür des Behandlungszimmers. Das ist derzeit nur für Patienten erlaubt, die eine körperliche Untersuchung benötigen. Alle anderen werden durch das Fenster untersucht.
Jeden Freitag gibt es eine Sprechstunde
Ein junger Mann nähert sich dem Fenster und deutet mit schmerzverzerrtem Gesicht auf sein Ohr. „Alles kaputt, hat weh“, sagt er in gebrochenem Deutsch. Marie Köhn, die im sechsten Semester Medizin studiert, nimmt zuerst seinen Personalausweis entgegen und gibt diesen an Sebastian Apweiler weiter. Der 23-Jährige sitzt am Schreibtisch und schreibt Patientendaten und Diagnosen am Laptop mit – einige der Patienten kommen jede Woche zur StuPoli-Sprechstunde am Freitag. „Da ist es für uns hilfreich, wenn wir wissen, was der- oder diejenige hat“, sagt Apweiler, der im neunten Semester Medizin studiert und an diesem Tag als Senior in der Sprechstunde aushilft. Marie Köhn ist zum ersten Mal dabei und soll als Junior die Anamnese durchführen.
Bei der Untersuchung und Diagnose hilft dann Allgemeinmedizinerin Dr. Elke Brüning, die aufmerksam zuhört. Marie Köhn fragt den jungen Polen: „Seit wann haben Sie die Schmerzen? Und kommt Wasser aus dem Ohr?“ Auf die erste Frage antwortet der junge Mann: „Zwei Monate.“ Die zweite Frage hat er nicht verstanden.
Die Mittelohrentzündung schauen sich beide Studenten an
Elke Brüning hat derweil schon das Otoskop zur Untersuchung des Gehörgangs aus einem mit Verbandsmaterial und Medikamenten gut bestückten Schrank geholt. Sie schaut kurz ins Ohr des Patienten, der sich dafür in den Fensterrahmen lehnt, dann gibt sie das Otoskop an die Medizinstudentin weiter. „Was Sie hier sehen, ist eine Mittelohrentzündung“, sagt die Ärztin. Das will sich auch Sebastian Apweiler anschauen, so oft kommt das nicht vor. Der Patient zeigt sich geduldig und sehr dankbar, als die Ärztin ein Rezept für ein Antibiotikum aufschreibt, das Marie Köhn dann schnell aus der gegenüberliegenden Apotheke holt und ihm gibt.
Die meisten der durchschnittlich 200 Patienten im Jahr haben Infektionen, Hauterkrankungen sowie Folgen von Verletzungen, wie eine Studie aus dem ersten Jahr der StuPoli ergab. Mehr als 40 Prozent der Patienten stammten danach aus Deutschland, weitere 50 Prozent aus anderen europäischen Staaten, vorwiegend aus Polen. Knapp 38 Prozent kamen mehrfach, vor allem wenn sie unter chronischen Krankheiten leiden und regelmäßig Medikamente benötigen. Diese erhalten sie bei StuPoli kostenfrei.
Das Projekt gibt es seit 2018 und ist spendenfinanziert
Seit Februar 2018 gibt es die Einrichtung, die vom Asklepios Campus Hamburg unterstützt und von Studierenden der medizinischen Privatuniversität ehrenamtlich geleitet wird. „Studenten im klinischen Teil können die StuPoli als Wahlpflichtfach wählen und verpflichten sich damit, mindestens drei Dienste pro Semester als Junior bei der zweistündigen Sprechstunde immer freitags mitzumachen“, sagt Kristina Hillmann (29), die gemeinsam mit Caroline Laudien (24) und Sebastian Apweiler zum Organisationsteam gehört.
Während Hillmann sich überwiegend um die Juniorenausbildung kümmert, erstellt Laudien den Dienstplan und Apweiler ist der IT-Spezialist. Andere im Team kümmern sich um die Materialbeschaffung oder die Spendenakquise. So unterstützt auch der Verein „Hamburger Abendblatt hilft“ die StuPoli mit 2000 Euro. Davon soll unter anderem ein Kühlschrank angeschafft werden. Ansonsten ist die kleine Praxis ganz gut ausgestattet mit einer Liege, einem EKG, einem Ultraschallgerät, Gehhilfen, diversen Tests und Möglichkeiten zur Blutabnahme. Die Proben werden vom Labor Amedes kostenfrei untersucht.
Die ehrenamtlichen Ärzte sind Supervisoren
Auch die zehn Ärzte, die sich jede Woche abwechseln und als Supervisoren bei der Sprechstunde mithelfen, machen das ehrenamtlich. „Ich finde, das ist ein tolles Studentenprojekt. Zum einen hilft es Menschen, die auf der Straße leben und medizinisch unterversorgt sind, und zum anderen lernen die Studierenden hier ganz praxisnah die Behandlung von Patienten“, sagt Dr. Brüning. Die 76-Jährige ist Allgemeinmedizinerin. Man merkt ihr an, dass sie gerne ihr Können an die Jüngeren weitergibt.
Jede Untersuchung wird bei ihr zur Lehrstunde. So zeigt sie Marie, wie man eine Frau mit starken Beinschmerzen diagnostiziert. Sie dreht und wendet das Bein, beugt das Knie, bis die Patientin anzeigt, wo genau es weh tut. Die korpulente Serbin ist schon das dritte Mal wegen dieser Schmerzen da, wie Apweiler anhand der Patientenakten feststellt. Ihr Mann, der für sie dolmetscht, sagt: „Diese Einrichtung ist wunderbar und wichtig für Leute wie uns. Ich bin sehr dankbar dafür.“
Viele neue Erfahrungen und große Dankbarkeit
Die Dankbarkeit der Patienten ist neben der praktischen medizinischen Erfahrung eines der Hauptmotive, warum Hillmann, Apweiler und Laudien sich neben ihrem anstrengenden Studium zusätzlich für die StuPoli engagieren. „Man bekommt so viel zurück. Die Menschen lachen einem ins Gesicht und freuen sich manchmal sehr über Kleinigkeiten wie ein Blasenpflaster. Man kann hier mit wenigen Mitteln schon viel bewirken“, sagt Hillmann. Laudien, die Allgemeinmedizinerin werden möchte, findet zudem gut, dass sie hier durch die Patientendokumentation und die Organisation der StuPoli viel für ihren späteren Praxisalltag lernt. Bei schweren Notfällen rufen sie einen Krankenwagen oder vermitteln weiter an die Praxis ohne Grenzen, in der Fachärzte Patienten ohne Krankenversicherung behandeln.
Was allerdings immer wieder große Probleme bereitet, ist die Sprachbarriere. Viele Patienten können ihre Schmerzen nicht genau beschreiben. Ein junger Obdachloser, der als einer der letzten Patienten ans Fenster klopft, hat eine große Wunde an der Lippe. Seine Freundin sagt: „Mein Freund hat Schmerzen, wir brauchen Salbe, ist wegen Kälte.“ Beide können nicht sagen, wie lange die Wunde schon da ist. Marie Köhn schaut sich die Lippe an, zuckt mit den Schultern. „Das sieht für mich nicht nach einer Kälteverletzung, sondern nach einem ausgewachsenen Herpes aus“, meint die Ärztin und reicht eine Salbe durchs Fenster. Manchmal hilft dann nur die langjährige Erfahrung der Ärztin.