Ein elfjähriges Hamburger Mädchen mit Down-Syndrom segelt mit bei der ersten inklusiven Weltmeisterschaft.

Bei der Frage, welchen Platz sie bei der WM anstreben wird, muss Noa nicht lange überlegen. „Am liebsten erster“, sagt die Elfjährige. Mit ihrem Vater Gregor Ronig wird sie vom 11. bis zum 13. Oktober bei der Inklusions-Segel-WM auf der Alster starten. Wegen ihres Down-Syndroms hat Noa einen Schwerbehinderten-Ausweis. So wie alle Teilnehmer dieser WM, die in dieser Form das erste Mal überhaupt ausgetragen wird. Die Idee: Menschen mit und ohne Behinderung segeln in Zweier-Teams um den Sieg. Die Handicaps reichen von schweren Hör- und Sehschwächen über multiple Sklerose bis zu fehlenden Gliedmaßen.

Die Boote, die diese WM möglich machen, schaukeln an diesem sonnigen September-Tag sanft vor dem Steg des Norddeutschen Regattavereins (NRV). Es sind Kielboote der Klasse S\V 14. Und sie beweisen, wie ein Eintrag in einem sozialen Netzwerk einen Sport verändern kann. Über Facebook rief im Oktober 2015 ein passionierter Segler auf, eine behindertengerechte Jolle zu kon­struieren. Sicher – und vor allem günstig. Schließlich haben gerade Menschen mit einem Handicap oft wenig Geld.

Ein spezielles Boot wurde entwickelt und gebaut

Der Niederländer Alex Simonis, mit seinem Partner Maarten Voogd spezialisiert auf den Bau von Jachten, ließ sich nicht lange bitten. Er entwarf ein Boot und stellte die Konstruktionspläne zum Selbstbau ins Internet. Der Durchbruch gelang durch die Kooperation mit dem Werftgiganten Far East (Shanghai). Die Chinesen produzieren zum Selbstkostenpreis. So konnte der NRV im Rahmen seiner Inklusionsoffensive sechs Boote für einen Stückpreis von 10.000 Euro kaufen – inklusive Segel und Anhänger.

IÜber eine Hydraulik kann man die Position der Schalensitze ändern
IÜber eine Hydraulik kann man die Position der Schalensitze ändern © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Als Gregor Ronig den Mast umklammert und sich nach hinten legt, wird klar, was Far East hier gelungen ist. „Ein normales Kielboot würde jetzt kippen“, sagt Ronig. Doch dank der Kielbombe aus Eisen neigt sich das Boot nur etwas zur Seite. Der wahre Clou der Konstruktion verbirgt sich vor dem hinteren Schalensitz. Über eine Hydraulik kann Ronig die Position der Schalensitze ändern. Diese Technik gleicht bei stärkerem Wind Schräglagen des Bootes aus.

Für Noa ist das Segeln herausfordernd

Dies ist gerade für Noa wichtig. Denn ihren ersten Ausflug auf einer klassischen Jacht hat sie in keiner guten Erinnerung. Ihr Vater hatte sie spontan bei einem Törn mitgenommen, laut Wettervorhersage sollte nur ein laues Lüftchen wehen. Doch dann frischte der Wind auf. „Wir haben die ganze Zeit das Pippi-Langstrumpf-Lied gesungen, um Noa zu beruhigen“, sagt Gregor Ronig.

Auf der S\V 14 sitzt Noa entspannt auf ihrem Sitz, gesichert durch einen Gurt, und setzt das Vorsegel. Ihr Strahlen verrät, wie sehr sie sich auf die gemeinsamen Segelstunden freut. Gregor Ronig bleibt dennoch vorsichtig. Der erfahrene Skipper, der schon als Dreijähriger auf dem Essener Baldeneysee mit den Eltern segelte, würde sich auch andere Windstärken zutrauen. Aber nicht mit Noa: „Ich will sie nicht stressen.“

Für Noa bedeutet jede neue Sportart eine enorme Herausforderung. Ihren Eltern war zunächst mit Blick auf mögliche Törns Schwimmen wichtig. Im Wasser bewegt sie sich inzwischen sicher. Jetzt hofft Gregor Ronig, dass das Segeln das Körpergefühl und das Selbstvertrauen seiner Tochter stärkt.

Wegen Corona mussten einige Teams absagen

„Noas Weg zeigt, dass sich jede Anstrengung gelohnt hat“, sagt Sven Jürgensen. Dass der NRV nun so sehr auf die Inklusion setzt, ist vor allem ihm zu verdanken. Der auf Segelsport spezialisierte Fotograf organisiert die erste inklusive Segel-WM. Wie alle Sportveranstaltungen leidet auch diese Veranstaltung massiv unter den Corona-Auflagen – mehrere Teams aus dem Ausland haben abgesagt.

Doch das facht Jürgensens Ehrgeiz nur weiter an. Für 700.000 Euro wird der NRV mit Unterstützung von Senat, Bezirk und Hamburger Sportbund im Frühjahr 2021 die Steganlage des Clubs an der Schönen Aussicht barrierefrei umbauen. Sogar ein Kran wird installiert, um bewegungseingeschränkte Segler ins Boot zu heben.

Gregor Ronig mit seiner Tochter Noa (11) beim Segeln.
Gregor Ronig mit seiner Tochter Noa (11) beim Segeln. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Der Club wird aus Eigenmitteln 200.000 Euro investieren, entsprechend viel Überzeugungsarbeit musste Jürgensen mit dem Vorstand in der Mitgliedschaft leisten. Ein gewichtiges Argument war, dass auch betagte Segler von den Umbauten profitieren. „Manche Mitglieder waren so begeistert von der Aussicht, wieder segeln zu können, dass sie spontan zugesagt haben, ein Boot zu stiften“, sagt Jürgensen.

Die Steganlage des Clubs wird barrierefrei

Obwohl der Kran noch nicht installiert ist, wagt sich mit Kirsten Bruhn schon jetzt eine der bekanntesten paralympischen Sportlerinnen auf die Alster. Das Element ist ihr wohlvertraut: Bruhn, querschnittsgelähmt nach einem Motorradunfall, holte bei Paralympischen Spielen im Schwimmen elf Medaillen, darunter drei goldene. Nach einem missglückten Ausflug in den Skisport, der nach einem Sturz mit Rippenbrüchen endete, segelt sie nun für den NRV. Bei ihrer ersten Regatta im August belegte sie im Duo mit NRV-Schatzmeister Volker Ernst den zweiten Platz. Doch das reicht ihr nicht: „Wir wollen noch besser werden.“

Jürgensen arbeitet bereits an dem nächsten großen Projekt. Er will ein Team mit zwei sehenden und zwei blinden Seglern zusammenstellen, das dann 2021 als Crew bei der Kieler Woche in einer der attraktivsten Kielbootklassen starten soll. „Die blinden Segler fahren nicht einfach mit, sondern packen mit an“, sagt Jürgensen. Sehbehinderte hätten oft ein besonderes Gespür für die Elemente. Für Noa gilt dagegen mit ihrem Vater zunächst das olympische Motto „Dabei sein ist alles“. Dass die Schülerin der Bugenhagenschule Alsterdorf überhaupt startet, ist bereits ein Erfolg, den ihr keiner nehmen kann.