Der SV Eidelstedt bietet Hamburgs umfangreichstes Angebot für Sportler mit Behinderung. Das Programm ist eine Erfolgsgeschichte

Marten sieht hier, dass er nicht der Einzige im Rolli ist. Er kann sich mit anderen Kindern vergleichen und es macht ihm viel Spaß“, sagt Malte Husem. Seit zwei Monaten kommt er mit seinem fünfjährigen Sohn jeden Mittwoch nach Alsterdorf in die barrierefreie Barakiel-Halle zum Rollstuhlsport für Kinder. Marten ist seit seiner Geburt querschnittsgelähmt. Er lacht gerne – und hier ist Action. Gerade schiebt ihn ein anderer Junge, „sein Motor“, mit Vollkaracho durch die Halle. Es muss doch möglich sein, diesen anderen Jungen da vorne zu kriegen, ihn abzuklatschen.

Sein Vater sitzt derweil an der Seite in einem geliehenen Rollstuhl, wackelt damit hin und her, übt ein paar Bewegungen. „Wenn mein Sohn mit anderen Kindern zusammen Sport macht, dann kommt Marten viel mehr aus sich heraus“, sagt Malte Husem. Die Freude darüber ist ihm anzusehen.

Rund 750 Mitglieder und Nicht-Mitglieder

Stefan Schlegel (59) kann dann nicht anders, als sich mit zu freuen. Sport und Spaß für alle, egal mit welcher Einschränkung – darum ging es ihm, als er vor inzwischen 31 Jahren beim SV Eidelstedt (SVE) die Inklusionssportabteilung gründete. „Damals gab es den Begriff Inklusionssport noch gar nicht“, erinnert sich „Macher“ Schlegel. Doch es gab einen großen Bedarf für Menschen mit Behinderung, Sport zu machen. Das hatte der Sportlehrer und Sonderschulpädagoge damals erkannt, und mit Unterstützung des gesamten Vereins versucht er seitdem, ihn zu erfüllen.

Es ist eine Erfolgsgeschichte. Mittlerweile sind rund 400 aktive Mitglieder mit Handicap im SVE organisiert, gemeinsam mit weiteren 350 Nichtmitgliedern können sie zwischen 31 Angeboten im Inklusions- und Freizeit- sowie Wettkampfsport wählen: von Fußball über Trampolinspringen, Klettern, Psychomotorik, Erlebnisturnen, Floorball, Wassergewöhnung, Schwimmen bis zum Rollstuhlbasketball.

Es gibt auch Eins-zu-Eins-Betreuung für Schwerbehinderte

Kinder mit Downsyndrom kicken, halbseitig Gelähmte klettern an der Boulderwand und die inklusive Tanzgruppe begeistert auch Zuschauer bei Auftritten mit ihrer Lebensfreude. „Wir versuchen jedem und jeder gerecht zu werden, zum Teil gibt es sogar eine Eins-zu-eins-Betreuung“, sagt Schlegel, „nur wenn jemand sich und andere gefährdet, wird es schwierig.“

Der SV Eidelstedt ist mit diesem breiten Angebot führend in Hamburg. Er hat dafür Ende Januar den Werner-Otto-Preis im Hamburger Behindertensport von der Alexander-Otto-Sportstiftung verliehen bekommen. Neben der Anerkennung bedeutet das auch 15.000 Euro Preisgeld für die Abteilung. „Das Geld werden wir wieder in neue Projekte stecken“, sagt Schlegel, dem die Ideen nie ausgehen. Er denkt an eine Kooperation mit der Tennisabteilung oder an Segeln.

inInklusive Sportgruppe des SC Eidelstedt in Alsterdorf, Barakielhalle.
inInklusive Sportgruppe des SC Eidelstedt in Alsterdorf, Barakielhalle. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Nichts ist wirklich unmöglich, wenn die Rahmenbedingungen stimmen: Betreuer, Sportstätte, Material. Womit wir auch wieder beim Geld wären. „Unser Vorstand gibt mehr in diese Abteilung als in unsere anderen, außerdem gibt es öffentliche Fördertöpfe, anders geht es nicht“, sagt Schlegel.

Denn eines ist für ihn völlig klar und indiskutabel: Der Beitrag für die Sportler darf nicht höher sein als für Nichtbehinderte: „Wir können ja niemanden für seine Behinderung bestrafen.“

Es geht nicht um Leistungssport

19 Kinder sind heute beim Rollstuhlsport dabei, Behinderte und Nichtbehinderte. Manchmal sind es mehr, selten weniger. Sie sind zwischen fünf und 16 Jahre alt. Es geht um Bewegungserfahrungen, ums Toben. Kein Druck, kein Gewinnenmüssen wie im Leistungssport.

Manchmal bauen die Übungsleiter in der Halle eine Art Abenteuerspielplatz auf. Das ist der Hit. Mit dem Rolli voll durch eine Wand aus aufgebauten Pappkartons rasen – wie cool ist das denn? Oder die mit Bänken konstruierte Rutsche heruntergleiten, endlich mal ohne den Rollstuhl, sondern auf dem Hintern.

Die Geschwister kommen gerne mit und helfen aus

Cedric Esch ist 15 und auf den Rollstuhl angewiesen. Er braucht Unterstützung nicht nur bei der Mobilität, sondern auch beim Anziehen. Das erledigt sein Bruder Jason. Er ist drei Jahre jünger und kommt fast immer mit zum Sport. „Wir haben schon einen speziellen Draht zueinander“, sagt Jason, „meist schiebe ich ihn hier als ,Motor‘ an. Das mache ich aber auch bei anderen Kindern.“

Jason wuppt das alles mit so viel außergewöhnlichem Engagement und Empathie, dass er schon als Assistent der Übungsleiter eingeteilt wird. Bald möchte er eine Jugendleiter-Ausbildung machen, um dann später als Übungsleiter arbeiten zu können. „Mir macht das einfach viel Freude“, sagt der Zwölfjährige.

Manche Eltern üben das Rollstuhlfahren

Ohne das Engagement von Menschen wie Jason würde es sicherlich nicht gehen. Auch Finja (9) hilft ihrem Zwillingsbruder Linus, der wegen einer Zerebralparese im Rollstuhl sitzt, beim Sport. Seit vier Jahren sind die beiden schon dabei. „Wir sind über ein Flugblatt auf die Gruppe im SVE aufmerksam geworden“, erzählt Mutter Nina Tschakert. Manche Eltern machen auch aktiv mit, lernen, im Sport-Rollstuhl zu fahren, die der SVE leihweise für die Sportstunde zur Verfügung stellt.

Diese Erfahrung ist für sie und auch für Geschwisterkinder wertvoll. „Manche Kinder fordern geradezu ein, dass ihre Eltern sich auch mal in den Rollstuhl setzen. Da sind sie dann nämlich überlegen“, sagt Stefan Schlegel.

Aber auch die Vernetzung ist für die Eltern wichtig. „Wir tauschen unsere Erfahrungen aus, helfen uns mit Tipps oder Adressen“, sagt Nina Tschakert. Denn natürlich haben sie gemeinsame Themen: Welche Fördermöglichkeiten gibt es, wo beantrage ich was, welche Therapie ist sinnvoll? Die Sportgruppe ist für sie mehr als nur Bewegung und Freizeit. Deshalb kommt Nina Tschakert mit Linus und Finja immer ganz aus dem Norden der Stadt nach Alsterdorf gefahren.

Stefan Schlegel gibt sein Wissen an andere Vereine weiter

Dort nutzt der SVE die barrierefreie Halle der Ev. Stiftung Alsterdorf eben auch deswegen, weil kein Verein in der Nähe ein entsprechendes Angebot machen konnte. Neben seinem eigentlichen Einzugsgebiet Eidelstedt/Schnelsen ist der Club auch in Altona mit drei Integrationsgruppen vertreten. „Leider haben zu wenig Vereine solche Angebote. Ich weiß nicht, warum sie sich nicht trauen“, sagt Schlegel, „es ist für uns ein echtes Anliegen, auch andere für solche Projekte zu gewinnen.“

Schlegel gibt deshalb regelmäßig sein Wissen in Seminaren weiter und schult andere Trainer. Auch die Übungsleiter beim SVE, die mit ihren blauen Kapuzen-Hoodies sofort in der Sportgruppe zu erkennen sind, profitieren von ihren Erfahrungen in den Eidelstedter Integrationsgruppen.

Wie Annika Künzel (24), die Studentin der Sportwissenschaft arbeitet mit in der Kinderrollstuhlgruppe und macht zusätzlich eine Fortbildung für Rollstuhlsport. „Die Kinder sind super dankbar, sie freuen sich über jeden Input“, erzählt sie, „und ich freue mich mit meinen Kollegen über jeden kleinen Fortschritt bei den Kindern.“

Infos zum Inklusions- und Freizeitsport des SV Eidelstedt unter: www.sve-hamburg.de (Sportprogramm), Stefan Schlegel, Tel. 57 00 07 20, E-Mail: stefan.schlegel@sve-hamburg.de