Neuer Chefarzt des Werner Otto Instituts sieht mehr Entwicklungsstörungen durch Familienstrukturen und ungesundes Umfeld.
Das Werner Otto Institut in Alsterdorf ist eines der ältesten und größten Sozialpädiatrischen Zentren in Deutschland und gehört zur Ev. Stiftung Alsterdorf. Es ist spezialisiert auf die Diagnostik und Therapie von Entwicklungsverzögerungen und Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen – 2019 wurden 3700 Patienten behandelt. Mehr als 20 Jahre war Dr. Christian Fricke Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des Instituts. Er wurde vergangene Woche verabschiedet. Sein Nachfolger als Chefarzt ist der Kinderarzt und Kinderneurologe Dr. Joachim Riedel, der zuvor am Altonaer Kinderkrankenhaus und am UKE gearbeitet und zuletzt das Sozialpädiatrische Zentrum in Celle geleitet hat.
Was sind die bei Ihnen am meisten diagnostizierten Störungen bei Kindern?
Joachim Riedel Die meisten Kinder kommen im Alter zwischen fünf und acht Jahren zu uns wegen kombinierter Entwicklungsstörungen, bei denen der Kinderarzt eine besonders umfassende Diagnostik und Behandlung für erforderlich hält. Häufig sind das Kinder, die sich in mehreren Bereichen nicht normal entwickeln, aber auch Kinder mit schweren Störungen der Sprachentwicklung, der Motorik oder des Verhaltens. Meist sind dann sehr ausführliche Untersuchungen durch verschiedene Fachleute unseres Teams erforderlich, bis wir die Ursache für die Störung klären.
Weniger Kinder mit Geburtsschäden, mehr mit Autismus
ADHS kann man relativ leicht diagnostizieren, aber es gibt bei Kindern auch neurologische oder genetische Erkrankungen wie kindliche Demenz und das Rett-Syndrom. Wenn solch eine Diagnose gestellt wird, ist das für die Familien eine schwere Belastung. Wir können ihnen aber neben der ärztlichen und psychologischen Behandlung eine umfassende therapeutische Begleitung, Sozialberatung und vieles mehr anbieten, weil wir alles unter einem Dach haben und unser Team sich auch mit seltenen Krankheiten auskennt.
Hat die Zahl der Kinder mit Entwicklungsstörungen zugenommen?
Ja, die Zahl hat zugenommen und die Behandlungsschwerpunkte haben sich verschoben. Es gibt weniger Kinder mit Geburtsschädigungen, auch die Frühgeborenen sind fitter. Es gibt dafür zum Bespiel mehr Kinder mit diagnostizierten autistischen Störungen. Das liegt sicher auch daran, dass das Thema mehr in der Öffentlichkeit präsent ist. Jede Erzieherin weiß inzwischen, was Autismus ist, und die Eltern werden dadurch früher aktiviert, sich bei uns vorzustellen. Und wir sehen immer mehr Kinder mit Verhaltensstörungen.
Woher kommen die vermehrten Verhaltensstörungen? Liegt es an den Eltern?
Nein, es wäre falsch, die Symptome vor allem durch eine „falsche Erziehung“ zu erklären. Wir müssen Eltern oft von diesem Vorwurf entlasten, den sie immer wieder von anderen hören. Es gibt mehrere Faktoren. Eine wichtige Rolle spielt auf jeden Fall eine genetische Veranlagung des Kindes – und die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das sind einerseits andere Familienstrukturen und häufig ein stark durchorganisierter Alltag der Familie, der für alle Stress bedeutet.
Der hohe Medienkonsum schadet der Entwicklung
Viele Kinder haben nicht mehr wie früher wenige verlässliche Betreuungspersonen, sondern einen häufigen Wechsel. Auch der Lebensraum ist für viele Kinder nicht mehr so frei, es gibt weniger Raum außerhalb der Wohnung, den die Kinder gefahrlos alleine nutzen können. Kinder gehen seltener zum Spielen nach draußen, bewegen sich weniger. Und der hohe Medienkonsum spielt natürlich auch eine Rolle.
Was macht das mit den Kindern?
Ich halte nichts davon, Kinder bis zum zehnten Lebensjahr von Medien fernzuhalten. Aber es entsteht häufig ein ungünstiges Verhältnis zwischen Aktivitäten mit echten Menschen und virtuellen Erfahrungen. Ein Kind, das lange am Smartphone oder Tablet sitzt, wird durch die vorgegaukelte Aktivität innerlich angespannt, es werden sogar Stresshormone ausgeschüttet, aber gleichzeitig verharrt das Kind in einer unbeweglichen Situation. Das ist für eine begrenzte Zeit unproblematisch, aber wenn es zu einem zu großen Missverhältnis kommt zwischen innerer Anspannung und fehlender körperlicher Aktivität, dann führt das zu Unruhe, schlechtem Schlaf und anderen Problemen.
Kinder sind heute mehr unter Beobachtung als früher. Es gibt viele Therapien. Wird Kindern zu schnell ein Stempel aufgedrückt?
Ja, manchmal werden leider Verhaltensbesonderheiten zu Krankheiten erklärt, die eigentlich in die normale Entwicklung von Kindern gehören – zum Beispiel aggressives Verhalten. Kinder setzen sich natürlich auch körperlich auseinander. Aber man muss in jedem Einzelfall genau schauen, ob ein problematisches Verhalten noch normal ist oder ob es vielleicht Ursachen dafür gibt.
Nicht mehr ADHS-Kinder als früher
Wir sehen hier auch Kinder, deren Eltern von der Kita oder Schule motiviert wurden, zu uns zu kommen, und die ihr Kind selbst ganz normal finden. Dass manche Kinder aus Kitas oder Grundschulen ausgeschlossen werden, weil sie zu oft schreien oder schubsen, finde ich allerdings besorgniserregend.
Gefühlt hat jedes zweite Kind ADHS/ADS – hat die Anzahl dieser Kinder zugenommen?
Die Zahl der diagnostizierten ADHS-Kinder hat in den letzten zehn Jahren nicht zugenommen. ADHS bei jedem 20. Kind ist trotzdem eine hohe Zahl. Dass ADHS-Symptome so häufig zu Problemen führen, liegt sicher auch an den veränderten Umgebungsbedingungen. Der Druck auf Kinder, sich mit leistungsbezogenen Aktivitäten zu beschäftigen, ist stärker. Viele Schulkinder haben einen durchgetakteten Tag – Ganztagsschule, dann Vereinssport oder Musikunterricht, abends Hausaufgaben. Sie können nicht mehr so viel frei spielen. Es gibt ganz sicher auch eine genetische Komponente und wenn man nachforscht, hatten oder haben einige Eltern vermutlich auch ADHS.
Symptome sind Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität
Aber früher konnten die sich dann nach der Schule mehr austoben. Und als unsere frühen Vorfahren noch im Wald lebten, waren die besonderen ADHS-Eigenschaften vermutlich sogar ein Vorteil, weil diese Menschen vieles gleichzeitig wahrnehmen und als Erste auf dem Baum waren, wenn ein wildes Tier im Gebüsch raschelte. Doch diese Veranlagung passt nicht mehr gut mit den meisten Anforderungen der heutigen Zeit zusammen.
Welche Symptome sind typisch für diese Erkrankung - ab wann sollten Eltern mit ihrem Kind zu Ihnen kommen?
Kernsymptome sind Unaufmerksamkeit, mangelnde Impulskontrolle und Hyperaktivität. Daraus resultieren dann häufig Konflikte in der Familie und mit anderen Jungen und Mädchen. Die Kinder sind oft nicht in der Lage, mehrteilige Arbeitsabläufe zu bewerkstelligen, sondern benötigen eine Anweisung für jeden einzelnen Arbeitsschritt.
Wird die Diagnose zu häufig gestellt oder auch als Entschuldigung für ein auffälliges Kind genommen?
Kinder sollten lieber einmal zu früh als zu spät bei Fachleuten vorgestellt werden. Eine frühe Diagnose ist wichtig, denn in vielen Studien ist nachgewiesen, dass eine frühe Behandlung eines ADHS-Kindes auch unter Einsatz von Medikamenten eine sozial ungünstige Entwicklung verhindern kann – ich meine damit Schulabbruch, Drogenabhängigkeit oder kriminelles Verhalten.
Auch gemobbte Kinder können ADHS-artige Symptome entwickeln
Aber man muss sich als Arzt auch gründlich das Umfeld des Kindes anschauen. Denn manchmal ist es ein Konflikt in der Familie, in der Kita oder Schule, der das Kind belastet. Auch Kinder, die gemobbt werden, können ADHS-artige Symptome entwickeln. Oder auch Kinder, die nicht richtig hören oder sehen können. Minderintelligente Kinder oder solche mit Lese-Rechtschreibstörung sind leicht überfordert und reagieren dann vielleicht heftig.
Ritalin ist in manchen Kreisen verpönt – wie stehen Sie zu der Medikamentengabe?
Man muss natürlich vorsichtig sein und nicht alle unruhigen Kinder mit Methylphenidat (Ritalin) versorgen, oft hilft schon Ergotherapie. Aber bei klarer Diagnose ist es ein elementarer Bestandteil der Therapie und hilft den Kindern enorm. Wenn zum Beispiel ein Schüler mit ADHS versetzungsgefährdet ist oder selbst unglücklich wegen seines Verhaltens, dann rate ich zum dem Medikament. Es ist auch kein Beruhigungsmittel, sondern erhöht vor allem im Frontalhirn die Aktivität. Das Kind kann sich dadurch besser fokussieren auf eine Sache. Es gibt keine Spätfolgen und keine Abhängigkeit von dem Medikament.