Das Musikfestival ist behindertengerecht gestaltet. Für Rollifahrer wie Marcel Marquardt gibt es eigene Bereiche, wie das Camp „Wheels of Steel“

Wenn ihr mich seht, dann macht mir Platz, mir und meinen Rädern aus Stahl“, heißt es im Lied „Wheels Of Steel“ von Saxon. 1980 schrieben die Vorreiter der sogenannten „neuen Welle des britischen Heavy Metal“ dieses Lied, und auch bei den mehr als ein Dutzend Auftritten von Saxon beim Wacken Open Air gehört es zum guten, lauten Ton. So auch vor einer Woche beim 30. Festivalgeburtstag im kurzzeitig von 1800 auf 75.000 Einwohner angeschwollenen Dorf bei Itzehoe.

Wheels Of Steel sind es auch, die Manfred Haussmann (58) und seine Partnerin Alexa Löw (42) vorsichtig durch den Staub bugsieren. Sie unterstützen Marcel Marquardt (57) in seinem Rollstuhl. Einer schiebt, einer geht voraus und teilt das schwarze Meer, also die Menge der Metalheads in ihren Bandshirts und Kutten. Sie machen gern Platz, heben Bierbecher und grüßen mit der „Pommesgabel“, der Metal-Geste, oder einem freundlichen Nicken und wenden sich wieder den Niederländern Within Temptation auf einer der beiden Hauptbühnen zu.

500 Rollstuhlfahrer gab es 2019 auf dem Gelände

Rollstuhlfahrer sind in Wacken längst ein gewohntes Bild, 500 sind es 2019. Die wichtigsten Zu- und Abwege zum Bühnengelände sind befestigt und an vielen Sperren und Eingängen haben sie Sonderrechte. Vor den großen Bühnen gibt es erhöhte Podeste für Rollstuhlfahrer und ihre Begleitpersonen. Und in unmittelbarer Nähe liegt auch das „Wheels Of Steel“-Areal, ein behindertengerechter Campingplatz mit zahlreichen Ideen, um den Festivalbesuch so gut es geht zu erleichtern, vom Wartungsservice für den Rollstuhl über Angebote der Pflegedienste bis zum Festivalmagazin in Blindenschrift.

„Das hat uns schon bei unserem ersten Besuch hier 2018 begeistert. Die Metalfans sind unfassbar freundlich und gelassen und helfen, wo sie können“, erzählt Manfred. Vor drei Jahren nahm der damalige leitende Angestellte eines Mineralölkonzerns am Programm „Seitenwechsel“ für Führungskräfte teil und hospitierte eine Woche in einer Wohngruppe des Sozialkontors am Frankenberg für Menschen mit Behinderung. „Das war schon eine Art Augenöffner“, erinnert er sich. 2017 ging er in den Vorruhestand und hilft seitdem ehrenamtlich regelmäßig in der Wohngruppe aus, macht Fahrdienste, unterstützt beim Einkaufen und beim Friseurbesuch oder organisiert Ausflüge.

Manfred hat Marcel beim Projekt „Seitenwechsel“ kennengelernt

Wacken ist dieses Jahr wie bereits 2018 ein Höhepunkt, besonders für Marcel, mit dem beim „Seitenwechsel“ schnell eine Freundschaft entstand. Vor knapp 30 Jahren wurde Marcel, einst selber DJ, bei einem Autounfall aus der üblichen Bahn des Lebens geworfen und kann seitdem nur noch eingeschränkt seine Hände bewegen, sehr leise und für uneingeweihte Ohren kaum verständlich sprechen und nur so weit sehen, wie es die ihm aufgezwungene eingesunkene Körperhaltung zulässt – bei vollen geistigen Fähigkeiten. Aber Hören geht – Rock und Metal, Rock ’n’ Roll!

Trotzdem ist der Festival-Besuch auch eine Strapaze für alle drei. Wenn Marcel etwas sagen möchte, braucht es für Alexa und Manfred auch ohne das Geballer von den Wacken-Bühnen mehrere Anläufe und eine Mischung aus Erfahrung und Interpretation, bis klar ist, was die nächste Station sein soll. Der Staub macht Marcel zu schaffen, aber ein Schluck Whiskey aus dem Strohhalm macht die Kehle frei. Man ist hier schließlich in Wacken!

„Wacken-Opa“ Günter Jacobs fuhr 500 Kilometer mit dem Rolli

Marcel Marquardt ist mit seinen Betreuern Alexa Löw und Manfred Haussmann in Wacken vor der Bühne - dort gibt es Podeste für Rollifahrer
Marcel Marquardt ist mit seinen Betreuern Alexa Löw und Manfred Haussmann in Wacken vor der Bühne - dort gibt es Podeste für Rollifahrer © Gesche Jäger | Gesche Jäger

Dafür ist kein Weg zu weit. Der berühmteste Rollifahrer hier, „Wacken-Opa“ Günter Jacobs (71), kommt seit 30 Jahren und fuhr dieses Jahr von Hessen aus mit dem Elektro-Rollstuhl 500 Kilometer bis zum Festival und sammelte dabei Spenden für die Initiative „Lautstark gegen Krebs“. Zum ersten Mal dabei ist Helge Langbein (50) aus dem Landkreis Kronach. Blind und schwer zuckerkrank ist der Besuch des Festivals sein Herzenswunsch, erfüllt vom Arbeiter-Samariter-Bund. Mehrere Metalheads heben ihn mit seinem Rolli beim Konzert von Queensrÿche in die Höhe. „Crowdsurfen“ nennt man das Gleiten über das Publikum. Da fließt nicht nur Bier in Strömen, sondern auch Freudentränen.

Die Ablage von Marcels Rollstuhl eignet sich auch gut als Tablett für eine Runde Drinks. Prost! An den zahlreichen Rock-Klamottenbuden finden sich noch neue Accessoires, dann geht es langsam zurück zum Bus, mit dem Marcel, Alexa und Manfred zurück nach Hamburg fahren. „Wacken – geil“, ist Marcels Fazit. Nach Vorverkaufsstart hat sich Manfred Karten für das ausverkaufte Wacken Open Air 2020 gesichert. Sie kommen wieder. Auf den Wheels Of Steel.

Das Musikfestival für Menschen mit Behinderung

Inklusion und Barrierefreiheit sind in Wacken Programm. Neben befestigten Zu- und Abwegen, Podesten vor den Bühnen, Gebärdenübersetzern und speziellen Sanitärbereichen liegt ein besonderes Augenmerk auf dem „Wheels Of Steel“-Campingplatz für Menschen mit den Merkzeichen G, aG, B, H, BL im Schwerbehindertenausweis und bis zu vier Begleiter. Dort gibt es u. a. spezielle Sanitäranlagen, Hilfsmittelverleih, Wartungs- und Reparaturservice, Physiotherapie und Massagen, Medikamentenlagerung/Kühlung und weitere Angebote. Weitere Infos unter www.wacken.com und handicap@wacken.com