Auf Station 13 im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf gehen Mediziner einen ungewöhnlichen Weg mit psychisch Kranken
Der Weg zu Station 13 führt vorbei an einem Aquarium, in dem Malawi-Buntbarsche und Welse ihre Kreise ziehen. Das Wasserbecken dient mitnichten nur der Dekoration. Studien haben gezeigt, dass das Beobachten von Fischen hinter Glas beruhigt und Stress verringert – ideal für die Patienten der Eltern-Kind-Klinik des Evangelischen Krankenhauses Alsterdorf.
Ein paar Schritte sind es nur vom Aquarium bis zum Zimmer von Andreas (10), der hier mit seiner Mutter für sechs Wochen lebt. Sein echter Vorname steht auf einem DIN-A4-Bogen an der Tür, für diesen Artikel haben wir ihn geändert. Wo die Seele behandelt wird, geht es um Vertrauen und Schutz.
Andreas kassierte Schulverweise, auch im Sportverein war er nicht mehr erwünscht. Zu aggressiv, zu laut, zu wütend. Er schlug immer wieder andere Kinder, daheim daddelte er fast nur noch auf seinem Handy oder seinem Computer. Diagnose: ADHS in besonders ausgeprägter Form, soziale Verhaltensstörungen. Seine Mutter, alleinerziehend, arbeitslos, leidet an schweren Depressionen. Beide haben ambulante Therapien hinter sich, bis es am Ende einfach nicht mehr ging. Nun suchen sie gemeinsam auf Station 13 einen Weg aus ihren Erkrankungen.
In der deutschen Psychiatrie und Psychotherapie ist das ungewöhnlich – in der Regel werden Eltern und Kinder getrennt voneinander behandelt. In Alsterdorf dagegen werden alle Kinder zusammen mit einem Elternteil stationär aufgenommen – etwa ein Drittel ist wie die Mutter von Andreas psychisch selbst erkrankt, zwei Drittel betreuen als Begleiteltern ihre Kinder. Den Bau der vor einem Jahr eröffneten Eltern-Kind-Klinik unterstützte die Stadt mit 4,2 Millionen Euro. Dank Spendern – unter ihnen auch die Barakiel-Stiftung, die das Aquarium finanzierte – konnte Ausstattung- und Therapiematerial für 170.000 Euro angeschafft werden.
„Wir gehen sehr bewusst diesen Weg der gemeinsamen Therapie“, sagt Dr. Angela Plass-Christl, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie: „So können wir am Umgang zwischen Elternteil und Kindern arbeiten. Wie gestalte ich mit dem Kind einen strukturierten Tagesablauf, ohne es anzubrüllen? Wie vermeide ich Eskalationen beim Mittagessen? Wie gehe ich mit Wutanfällen des Kindes um?“ Nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts gilt jedes fünfte Kind zumindest zeitweise als psychisch auffällig, jedes zehnte als erkrankt. Ist ein Elternteil krank, steigt das Risiko sogar auf 50 Prozent. Psychische Krankheiten strahlen besonders stark auf die gesamte Familie. Kinder entwickeln Schuldgefühle, weil sie denken, Mama oder Papa gehe es nur deshalb so schlecht, weil sie Fehler gemacht hätten. Eltern verzweifeln an Gesprächen mit Klassenlehrern, an Vorwürfen von Freunden und Nachbarn, sie hätten ihr Kind nicht gut erzogen. Viele Familien zerbrechen, Arbeitslosigkeit und finanzielle Probleme verschärfen die Situation. Mitunter mündet die Überforderung in Gewalt. Auf Station 13 leben auch Kinder, die von Mutter oder Vater geschlagen wurden. „Die Eltern haben in aller Regel selbst Gewalt in der eigenen Erziehung erlebt, wissen keine andere Lösung, um Regeln durchzusetzen“, sagt Angela Plass-Christl.
Hierher kommen Familien, bei denen die Hilfen zuvor versagt haben
Der Alsterdorfer Weg heißt: Alle Probleme angehen. Sozialarbeiter helfen bei der Arbeitsplatzsuche, Erzieher kümmern sich um Rituale und Regeln, eine Kinderärztin um organische Krankheiten, bei Bedarf werden Experten des benachbarten Werner-Otto-Instituts konsultiert. Lehrer der Krankenhaus-Schule führen die Kinder wieder behutsam an Unterrichtsstoff heran, manche Patienten haben über Monate keine Klasse mehr von innen gesehen. Die Apartments sind bewusst spartanisch ausgestattet: zwei Betten, zwei Schränke, ein Tisch, keine Kochgelegenheit. Die Patienten sollen gemeinsam essen, mitunter gemeinsam essen lernen, in ruhiger, entspannter Atmosphäre.
Spätestens jetzt wird klar, dass es hier weder um eine Eltern-Kind-Kur noch um ein Lerncamp geht. „Wir kümmern uns um Kinder und ihre Mütter oder Väter, für die viele Interventionen zuvor nicht oder kaum hilfreich waren“, sagt Angela Plass-Christl.
Die Mutter von Paula (7) hat einen Suizidversuch hinter sich – ihr Mann fand sie noch rechtzeitig. Die Tochter ist ängstlich, wirkt sehr zurückgezogen. Die gemeinsame Therapie brachen die Mediziner schließlich ab. Die Mutter brauchte mehr Zeit für sich alleine. „Sie war mit der gemeinsamen stationären Behandlung überfordert. Im familiären Alltag war Paula morgens in Schule, nachmittags in der Betreuung“, sagt Angela Plass-Christl. Und doch geht für beide Patienten der Weg in Alsterdorf weiter: Die Mutter wird nun in der Erwachsenen-Psychiatrie intensiv betreut, Paula weiter auf Station 13, ihr Vater konnte als Betreuer einspringen.
Das Team in Alsterdorf kümmert sich auch um ganz kleine Patienten: Babys, die nach einer Frühgeburt mit der Sonde ernährt werden mussten und deshalb nicht gelernt haben, selbstständig zu essen. Bei Baby-Picknicks dürfen die Kleinen mit dem Essen manschen. Speziell geschulte Mediziner zeigen Müttern und Vätern, wie sie ganz behutsam, ohne jeden Zwang, ihre Kleinen füttern, um sie von der Sonde zu entwöhnen.
Seit November führt Angela Plass-Christl die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Alsterdorf. Wer ihr zuhört, spürt, dass sie über ihren Traumjob spricht. „Schon im Studium habe ich gewusst, dass ich in der Psychiatrie arbeiten möchte, weil ich den Patienten mit seiner ganzen Lebensgeschichte, mit seinen Bindungen sehen will.“ Im UKE beschäftigte sie sich zuvor viele Jahre mit Kindern und Jugendlichen von psychisch erkrankten Eltern. Über dieses Thema hat sie gerade habilitiert.
Wer sich in diesem Feld bewegt, muss damit leben können, dass es keine kurzfristigen Heilungen gibt. Die Chefärztin vergleicht die Therapie gern mit einer Wanderung: „Wir können dem Patienten den Rucksack mit Beschwerden nicht einfach abnehmen, aber ihm helfen, den Rucksack so zu packen, dass er ihn leichter tragen kann.“
Für Andreas und seine Mutter führt dieser Weg bald wieder in die eigene Wohnung. Er wird in speziellen Lerngruppen unterrichtet, die Therapien gehen für ihn und seine Mutter ambulant weiter. Beide wissen, dass sie zurückkehren können, wenn die Probleme zu heftig werden sollten. Zurück auf Station 13. Mit dem Aquarium am Eingang.
So können Sie helfen
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie freut sich über Spenden für Kunst- und Theatertherapie, die nicht von der Krankenkasse bezahlt wird: Ev. Krankenhaus Alsterdorf,
IBAN: DE32 2512 0510 0004 4444 02Verwendungszweck: KJP