Viele Angehörige Todkranker fühlen sich in Kliniken alleingelassen. Eine UKE-Professorin untersucht, was Hinterbliebene brauchen.
Der Urlaub war bereits gebucht, vorher wollte sich Johannes Schulte (alle Namen von Patienten und Angehörigen geändert) nach überstandener Darmkrebserkrankung noch einem Routine-Eingriff in einem Hamburger Krankenhaus unterziehen. Nach der Operation sprach der Chirurg von einer „Bilderbuch-OP“, doch als Anngret Schulte am Abend eintraf, herrschte am Krankenbett ihres Mannes große Hektik. „Er musste auf die Intensivstation gebracht werden, weil es ihm schlecht ging“, erzählt die 63-Jährige. „Ich sehe heute noch vor mir, wie der Pfleger mit dem Handy telefonierend sein schlingerndes Pflegebett über die Gänge bugsiert.“ Aufgrund innerer Blutungen kam es in den nächsten Tagen zu zwei Not-OPs. Anngret Schulte wurde nachts angerufen und aufgefordert, die Patientenverfügung ihres Mannes vorzulesen. Schließlich musste sie entscheiden, ob er an die Dialyse angeschlossen werden sollte oder nicht. Als sie zwei Stunden später auf der Intensivstation ankam, war ihr Mann bereits verstorben.
„So gab es keinen Abschied. Ich hätte mir gewünscht, dass mich die Ärzte über den medizinischen Hintergrund aufklären und auf den Tod meines Mannes vorbereiten“, sagt Anngret Schulte. Zwei Jahre später besucht sie eine Trauergruppe im Hamburger Hospiz e. V., wo sie nur unter Tränen über das Sterben ihres Mannes sprechen kann. „Ich habe ein Jahr lang nur funktioniert und nichts mehr gespürt. Erst als ausgerechnet am ersten Todestag die Rechnung für die Leichenschau eintraf, brach in mir eine Wut auf, mit der ich bis heute nicht umgehen kann.“
Mit ihren Erfahrungen steht Anngret Schulte nicht allein da, denn jeder zweite Deutsche stirbt in einer Klinik. Immer wieder berichten Teilnehmende in den Trauergruppen davon, dass ihnen Schuldgefühle oder Wut aufgrund belastender Erfahrungen im Krankenhaus den Trauerprozess erschweren. Die Hinterbliebenen aus Anngret Schultes Gruppe erlebten verschmutzte Krankenzimmer, falsche Medikamentengaben, unzureichende Schmerzbehandlung und unfreundliches, überfordertes Pflegepersonal. „Meine Mutter lag 20 Minuten in ihrem Kot, bevor ein Pfleger auf ihr Klingeln reagierte“, erzählt Britta Weiß, deren Mutter 2017 im Krankenhaus ihrem Krebsleiden erlag. „Auf der normalen Station herrschte der blanke Horror, weil durch den Pflegenotstand nur eine Pflegekraft für 30 Patienten zuständig war.“ Auch bei den Ärzten spürten die Angehörigen den Zeitdruck, fühlten sich alleingelassen und schlecht informiert. Vor allem vermissten sie eine einfühlsame Kommunikation „auf Augenhöhe“. Bisher gehört es vor allem in Hospizen und der Palliativversorgung in der letzten Lebensphase zum Selbstverständnis, dass neben dem Patienten auch die Angehörigen mit im Fokus der Betreuung stehen. Prof. Karin Oechsle, die seit 2008 den Bereich Palliativmedizin am UKE leitet, wurde im Juli 2017 auf die maßgeblich von der Hamburger Krebsgesellschaft e. V. finanzierte Stiftungsprofessur für Palliativmedizin mit Schwerpunkt Angehörigenforschung berufen. Seither untersucht die Medizinerin unter anderem mit Fragebögen und in Interviews, welche Bedürfnisse Angehörige schwerstkranker Patienten haben und welche Form der Unterstützung für sie hilfreich wäre.
Bereits die ersten Studienergebnisse zeigen, wie wichtig es wäre, sich stärker um diese Gruppe zu kümmern. „Der Belastungsgrad von Angehörigen kann zum Beispiel bei Krebspatienten in der letzten Lebensphase sogar höher als beim Patienten selbst sein“, sagt Prof. Karin Oechsle. „Bei mehr als einem Viertel der Angehörigen muss man befürchten, dass sie langfristig psychische Probleme davontragen können und nachhaltig in ihrer Lebensqualität eingeschränkt bleiben, wenn sie keine passende Unterstützung finden.“
Ganz oben auf der Wunschliste der Angehörigen steht das Bedürfnis nach Information. Dafür braucht es auch bei Ehepartnern, Kindern und Geschwistern immer die Zustimmung des Patienten oder eine Vorsorgevollmacht, wenn der Patient nicht mehr ansprechbar ist. Angehörige möchten genau wissen, was mit dem Patienten passiert und bei fortgeschrittener Erkrankung möchten sie gern Klarheit über die Lebenserwartung bekommen. „Gerade bei schwer kalkulierbaren Krebserkrankungen kann man das nur in gewissem Grad voraussagen“, sagt Prof. Karin Oechsle. „Außerdem machen wir die Erfahrung, dass in der emotionalen Ausnahmesituation viele Informationen nicht ankommen. Unser Unterbewusstsein schiebt vieles weg, was wir nicht gerne hören. Das betrifft besonders die Aussage, dass eine Krankheit nicht heilbar ist.“
Zudem zeigen die ersten Forschungsergebnisse, wie sehr der Wunsch nach Klarheit mit der Sehnsucht nach Hoffnung kollidiert. „Für Angehörige ist es enorm wichtig, bis zum letzten Moment mit jemandem das Gefühl teilen zu können, dass es immer noch Hoffnung geben darf“, fasst Prof. Oechsle zusammen. „In der Rückschau tat es Angehörigen gut, wenn dieses Bedürfnis auch im medizinischen Umfeld respektiert worden ist.“
Mittlerweile haben die meisten Krankenhäuser palliativmedizinische, multiprofessionelle Teams aus Ärzten, Psychologen, Seelsorgern und Sozialarbeitern, die auch auf die Bedürfnisse der Angehörigen von sterbenskranken Menschen entsprechend den Grundprinzipien der Palliativmedizin mit eingehen. Im UKE betreut das Team von Prof. Karin Oechsle jährlich rund 700 schwerst- und sterbenskranke Patienten und bei Bedarf ihre Angehörigen auch auf anderen Stationen mit. „Ich gehe davon aus, dass wir bei Weitem nicht alle Angehörigen erreichen, die Unterstützungsbedarf haben“, sagt die Medizinerin. „Wenn die Bedürfnisse und Wünsche von Angehörigen unerkannt bleiben, ist dies meist keine Absicht, sondern liegt an der Vielzahl der Aufgaben der Pflegenden und Ärzte, die sich oft um viele Patienten gleichzeitig kümmern müssen. Deshalb ist es wichtig, dass Angehörige ihre Bedürfnisse aktiv äußern und anmelden.“
Um für diese Extremsituation gewappnet zu sein, braucht es nach Ansicht der Medizinerin eine frühzeitige Auseinandersetzung mit den Themen Sterben und Tod. „Man muss in der Familie über seine Wünsche und Bedürfnisse reden, solange man noch gesund ist“, sagt Prof. Oechsle. „Wenn man sich vorher überlegt hat, was einem wichtig ist, kann auch im Krankenhaus vieles möglich gemacht werden.“
Hilfe für Angehörige
Es gibt in den Kliniken Beschwerdestellen (www.hkgev.de/ansprechpartner-243.html), Patientenfürsprecher und Ethik-Beauftragte, die bei Konflikten vermitteln. Als unabhängige Beratungsstellen stehen die Verbraucherzentrale (www.vzhh.de/beratung) und die Patienten-Initiative e. V. (www.patienteninitiative.de) zur Verfügung. Angebote zur Trauerbegleitung auf www.koordinierungsstelle-hospiz.de (Stichwort „Trauer“) und www.trauergruppe.de