Das SOS-Kinderdorf bietet Systemisches Coaching für Väter und Mütter an, die ihren Kindern hilflos gegenüberstehen.
Die Situation zu Hause war für Daniela Martens (alle Namen der Familienmitglieder geändert) unerträglich geworden. Es war chaotisch und laut, vor allem wegen des ständigen Gebrülls – der Eltern und der drei Töchter. „Wir haben häufig Strafen ausgesprochen, die wir selten eingehalten haben. Eigentlich war es so: Die drei Mädchen haben gepfiffen und wir haben getanzt“, fasst die 33-Jährige den Alltag zusammen. Zum Schluss war es so schlimm, dass die Pflegeassistentin sogar am Wochenende Doppelschichten im Altenheim annahm, um dem Stress zu Hause zu entfliehen – den hatte dann ihr Partner und Vater der beiden jüngeren Töchter.
Dann gab es vor rund einem Jahr einen Zwischenfall mit der Polizei, bei dem sich anschließend das Jugendamt meldete. Es bot seine Hilfe an und empfahl den überforderten Erwachsenen, an einem „Systemischen Coaching für Eltern“ des SOS-Kinderdorfs Hamburg teilzunehmen. Anders als bei vielen anderen Programmen liegt der Fokus hier auf einer Verhaltensveränderung der Eltern. Sie werden dabei gestärkt, wieder ihre Rolle im Zentrum der Familie einzunehmen, präsenter zu werden und ihre Wertvorstellungen klar zu formulieren. „Seit wir das machen, hat sich unser Familienleben um mindestens 70 Prozent zum Positiven gewandelt“, sagt Daniela Martens und schaut lächelnd zu ihren Coaches, Rita Lauschke (60) und Stefanie Häberlein ( 38).
Seit zehn Jahren bietet das siebenköpfige Team des SOS-Kinderdorfs in seinen vier Beratungsstellen das Konzept der „Neuen Autorität“ an. Es steht für gewaltlosen Widerstand, kommt ursprünglich aus Israel und wurde dort vorwiegend für Eltern gewalttätiger Kinder entwickelt. „Es geht vor allem darum, Eltern aus ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht herauszuholen und sie wieder in eine gute Beziehung mit ihren Kindern zu bringen“, sagt Heilpädagogin Stefanie Häberlein, die die Familie zusammen mit Rita Lauschke in den vergangenen Monaten betreut hat. Die meisten der wöchentlichen Treffen fanden bei den Martens’ zu Hause statt, wodurch die Pädagoginnen einen tiefen Einblick in das Beziehungsgeflecht der Familienmitglieder bekamen.
Da ist zum einen die zehn Jahre alte Maria, dann die siebenjährige Alina und die sechsjährige Elsa. Vor allem Maria bereitet Probleme, schon immer. Sie ist aggressiv, provoziert und beschimpft die Eltern, auch heute noch. „Während die beiden Jüngeren schlank und angepasster sind, ist Maria übergewichtig und hat auch in der Schule massive Probleme, sie wurde über Jahre gemobbt“, sagt ihre Mutter. Das Kind hat schon etliche Verhaltenstherapien und sogar Aufenthalte in der Tagesklinik hinter sich. Maria hasste es, sich zu duschen, pünktlich zum Abendessen zu kommen und sich überhaupt an Regeln zu halten – es gab früher auch nicht allzu viele. Dafür gab es viel Unsicherheit im Umgang mit den Kindern. „Ich dachte lange, dass Kinder möglichst viel Freiheit brauchen, damit sie zu selbstbestimmten Menschen werden. Und ich wusste ehrlich nicht, wie ich Maria zum Beispiel dazu bringen konnte, zu duschen“, sagt Daniela Martens, die selber eine lieblose Kindheit hatte. „Ich liebe meine Töchter und habe deswegen immer viel ihnen gemacht“, sagt sie. So gibt es für jede Tochter einen Mamaabend in der Woche, an dem früher allerdings nur gemacht wurde, was das jeweilige Kind wollte. „Inzwischen bestimme ich mit, was wir machen. Finden wir keinen Kompromiss oder gibt es Geschrei, wird der Abend abgebrochen“, berichtet sie. Das ist eine neue Regel. Neben der, dass es weniger Süßigkeiten gibt und feste Duschtage, dass der Medienkonsum mithilfe einer Eieruhr zeitlich eingeschränkt und vor allem das Abendessen auf insgesamt 30 Minuten begrenzt ist. Für alle Kinder, denn es soll sich nicht alles auf die Älteste konzentrieren. „Früher hat Maria oft nicht mit uns gegessen, sondern in ihrem Zimmer gewütet und dann stundenlang den Tisch blockiert.“ Jetzt müssen sie und ihre Schwestern in diesem Zeitfenster an den Tisch kommen, sonst gibt es nichts mehr. „Das erste Mal hat sich Maria 20 Minuten Zeit gelassen und hatte dann nur noch zehn Minuten für ihre Mahlzeit. Ich habe ihr dann den halb vollen Teller weggenommen und gesagt jetzt sei Schluss“, sagt ihre Mutter.
Sie ist sichtlich stolz auf die Erziehungserfolge und vor allem dankbar, dass sie diese Hilfen vom Kinderdorf-Team bekommen hat. Derzeit trifft sie sich nur alle zwei Wochen mit Stefanie Häberlein, immer mal wieder ist auch ihr Partner dabei. „Auch wenn es bei uns jetzt viel ruhiger ist, ganz ohne geht es noch nicht. Ich brauche diese Gespräche und den Rückhalt, den mir die Coaches geben“, sagt Daniela Martens.
Derzeit betreuen die Coaches 22 Familien aus allen Gesellschaftsschichten – Alleinerziehende und Paare – Letztere beraten dann immer ein Mann und eine Frau, denn die Familienhelfer arbeiten im Team. Fast alle Eltern kommen auf Empfehlung des Jugendamtes, das die Kosten für die maximal einjährige Betreuung übernimmt. Aber es gibt auch die Möglichkeit, die 90-Minuten-Sitzungen privat zu bezahlen. Die Kosten entsprechen ungefähr einer Therapiestunde beim Psychologen.
Beim Systemischen Coaching wird nicht nur die Familiengeschichte der Eltern beleuchtet, sondern es werden auch die Kinder zur Familiensituation befragt. „Die Kinder wissen oft genau, was los ist. Ein Junge sagte zum Beispiel, dass nicht er das Problem sei, sondern seine Mutter therapeutische Hilfe brauche. Da mussten wir zustimmen“, sagt Sozialpädagogin Lauschke. Sie sieht die Hauptursachen für die Probleme darin, „dass Eltern oft keine klaren Vorgaben machen und den Kindern keinen Rahmen stecken, weil das zu anstrengend ist“. Viele Mütter und Väter seien auch mit sich selbst und dem Job so beschäftigt, dass sie nicht genügend Präsenz im Alltag zeigten und ihre Rolle als Eltern vernachlässigten.
Daniela Martens hat ihre Arbeitszeit reduziert, um mehr Ruhe in die Familie zu bekommen. „Das Coaching hilft nur, wenn man nichts schönredet. Man muss offen und ehrlich zu den Coaches und sich selbst sein“, sagt sie.
Infos zum Systemischen Coaching für Eltern: www.sos-kd-hamburg.de. Die Teams der Ambulanten Hilfen gibt es in Eimsbüttel, Eidelstedt, Wandsbek und im SOS-Familienzentrum in Dulsberg, Tel. 60 00 31 81.