Das Haus Mignon und der Kinderteller Neuwiedenthal wurden mit dem HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2017 ausgezeichnet

Nachts, wenn es dunkel ist, beginnt der Kampf. Der kleine Sebastian (Name geändert) weint, schreit, bekommt Krämpfe bis hin zur Besinnungslosigkeit. Der ganze Körper ist auf Überlebensmodus gepolt, jede Nacht, wochenlang, monatelang. Schlafen, einfach loslassen, die Kontrolle abgeben und sich ins Land der Träume fallen lassen, das ist für den Dreijährigen schier unmöglich. Zu übermächtig sind die Dämonen der Vergangenheit, zu groß der Schmerz und die Verletzungen, die das kleine Trauma-Opfer in seiner frühesten Kindheit erleben musste.

Sebastian lebt seit fünf Monaten im Kinderhaus Mignon in Nienstedten, das auch vom Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“ unterstützt wird und am Freitag mit dem HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2017 ausgezeichnet wurde. Das Jugendamt hat ihn aus seiner Familie herausnehmen müssen. Massive Gewalt und Missbrauch durch den Vater waren der Grund. Nun lebt er in der Obhut einer besonderen familienähnlichen Wohngruppe und erfährt Zuwendung und Geborgenheit.

Die Heilpädagogin Maya Schneider leitet das Kinderhaus Mignon mit den vier Wohngruppen mit maximal fünf Kindern – eine Gruppe davon ist in Cranz. Hinzu kommen jeweils die eigenen Kinder der insgesamt acht Pädagogen. Sie sind gemeinsam mit vier externen Erziehern rund um die Uhr für die Kinder im Einsatz, die ihnen das Jugendamt anvertraut hat. Es sind schwer traumatisierte Mädchen und Jungen, die meisten waren extrem verwahrlost. Manche kommen als Säuglinge, andere sind schon Grundschulkinder. „Viele, die zu uns kommen, sind lernbehindert und oft anfangs sehr aggressiv“, sagt Maya Schneider.

Sie und ihr Mann haben eine wunderbar ruhige und geduldige Art, mit ihren Schützlingen umzugehen. „Wir treten nicht in Konkurrenz zu den richtigen Eltern, das ist ganz wichtig. Die Eltern besuchen ihre Kinder auch, wenn das gewünscht ist“, sagt die Pädagogin. Doch für viele der Jungen und Mädchen werden sie zu einem Elternersatz.

Denn die Kleinen kommen ins Kinderhaus, um möglichst bis ins Erwachsenenalter dort zu bleiben. Mehr als 30 Jungen und Mädchen haben Maya Schneider und ihr Mann seit 1999 gemeinsam betreut. In der hellen Dachgeschosswohnung mit den vielen rustikalen Holzmöbeln, den Instrumenten und einer großen, gemütlichen Wohnküche erleben die meisten dieser Kinder zum ersten Mal, was Familienleben bedeutet. Es wird gemeinsam gespielt, gekocht, gebacken und Wäsche gewaschen. Sie erfahren Liebe, Verlässlichkeit, Vertrauen und Sicherheit. „Wir sind dazu da, das Leben dieser Kinder zu stabilisieren und ihnen eine Struktur zu geben. Unser Ziel ist es, diesen Kindern einen Platz in der Gesellschaft zu ermöglichen, der ihren Fähigkeiten entspricht“, sagt Schneider. Sie erzählt voller mütterlichem Stolz von ihren ehemaligen Schützlingen, die fast alle ihre Schulabschlüsse geschafft haben, manche sogar die mittlere Reife oder das Abitur. Viele machen eine Ausbildung, oft im therapeutischen Bereich. „Die meisten machen eine Karriere, die weit über dem Niveau ihrer Herkunftsfamilie liegt“, sagt ihr Mann.

Die Benita Quadflieg Stiftung – benannt nach der Gründerin des Hauses Mignon – unterstützt das Kinderhaus dabei, die Kosten für notwendige Therapiemaßnahmen wie Reittherapie, Musiktherapie oder auch Renovierungen und den Aufbau weiterer Wohngruppen zu finanzieren. Für dieses besondere Engagement hat die Benita Quadflieg Stiftung für das Projekt Haus Mignon den HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2017 (Hauptpreis) erhalten, der mit 20.000 Euro dotiert ist.

Wochenend-Mahlzeit für die Kinder aus Neuwiedenthal

Neuwiedenthal hat in den vergangenen Jahren immer wieder Schlagzeilen gemacht: Eine Zweijährige wurde vom Vater erstochen, es gab Gewaltexzesse, Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Bewohnern. Südlich der Elbe gehört das Quartier zu den sozialen Brennpunkten in der Hansestadt. 80 Prozent der hier lebenden Menschen haben einen Migrationshintergrund. Überdurchschnittlich viele Menschen sind arbeitslos, leben von Transferleistungen, kämpfen mit Defiziten bei der Schul- und Berufsausbildung.

Mitten im Stadtteil gibt es die „Grüne Insel“, die Kindertagesstätte des DRK-Kreisverbands Hamburg-Harburg, in der rund 110 Kinder betreut werden. Die Kita-Mitarbeiter beobachteten, dass manche Kinder sich freitags und montags beim Essen in der Kita gleich mehrere Teller füllten. Offenbar wurde vor dem Wochenende „auf Vorrat gegessen“ und danach das Essen nachgeholt. Die engagierten Erzieher handelten und gründeten 2006 das Projekt „Kinderteller Neuwieden­thal“. Es wird von Ehrenamtlichen getragen, von denen derzeit zehn regelmäßig im Einsatz sind. Seit es den Kinderteller gibt, können die Jungen und Mädchen auch am Wochenende in der Kita eine warme Mahlzeit zu sich nehmen.

Bis zu 50 Kinder zwischen drei und 14 Jahren aus dem Stadtteil kommen sonnabends und sonntags in der Zeit von 13 bis 14 Uhr in die „Grüne Insel“. Hier erwartet sie nicht nur eine warme Mahlzeit, sondern auch liebevoll gedeckte Tische mit frischem Blumenschmuck und Erwachsene, die sich Zeit nehmen, sich zu ihnen setzen und das Gespräch suchen. Sandra Bockrath, Leiterin der Kita „Grüne Insel“, sagt dazu: „Das Einnehmen einer Mahlzeit in Gesellschaft ist als Gemeinschaftserlebnis für die Jungen und Mädchen noch immer etwas Besonderes. Wir fragen nach Erlebnissen in der Schule, sprechen über Sorgen und Nöte. Wir hören zu. Und manchmal greifen wir auch helfend ein.“

Auch die Qualität des Essens ist für die Ehrenamtlichen ein Anliegen. „Frisch soll es sein und schmecken“, so Birgit Kohnen. Sie ist eine der ehrenamtlichen Helferinnen. Die Sterbe- und Trauerbegleiterin hat sich nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit für die Arbeit beim Kinderteller entschieden, „weil dieser kostenlos ist und so wirklich die Kids erreicht werden, die Unterstützung benötigen.“ Es geht ruhig bei den Mahlzeiten zu. Die Kinder genießen die gedeckte Tafel, unterhalten sich und helfen am Ende gerne beim Abräumen mit. Man legt Wert auf Regeln und Tischmanieren. Es gibt klare Abläufe und strenge Strukturen.

Steffen (4, alle Kindernamen sind geändert), kommt regelmäßig zum Kinderteller, weil die Mutter oftmals keine Zeit zum Kochen hat. Arza (7) findet, dass es hier einfach besser schmeckt. Weil die Mutter oft am Wochenende arbeitet, kommen die Geschwister Ali (4) und Nesrin (6). Doch manchmal sind die Gründe, aus denen die Kinder am Wochenende in die Kita kommen, auch schwerwiegender, als sie erzählen mögen oder können. In diesen Familien sind die Eltern überfordert und können sich nicht angemessen um ihre Kinder kümmern. Die Gründe dafür sind vielschichtig, beim Kinderteller spielen sie jedoch keine Rolle. Hier bekommen Kinder, die hungrig sind, eine warme Mahlzeit. Direkter kann Hilfe für sozial benachteiligte Familien kaum sein.

Der mit Spenden finanzierte „Kinderteller Neuwiedenthal“ des DRK-Kreisverbandes Hamburg-Harburg hat für sein außerordentliches Engagement den HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2017 (Anerkennungspreis) erhalten, der mit 10.000 Euro dotiert ist.

Diese Projekte wurden geehrt

Am Freitag wurden im Atrium der HanseMerkur Versicherungsgruppe neben dem Kinderhaus Mignon der Benita Quadflieg Stiftung und dem DRK-Kreisverband Hamburg-Harburg e. V. mit dem Kinderteller Neuwiedenthal auch die Spezialambulanz für Kinder mit Glasknochenkrankheit der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln und der Magdeburger Verein Kinder-klinikkonzerte e. V. mit dem HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2017 geehrt. Insgesamt ist er mit 50.000 Euro dotiert. Ausgezeichnet werden einzelne Personen, private Initiativen und Gruppen in Deutschland, die sich weitgehend ehrenamtlich und beispielhaft für die Belange von jungen Menschen einsetzen.

Bis zum 31. August können soziale Projekte sich für den HanseMerkur Preis für Kinderschutz 2018 bewerben. Infos unter: hansemerkur.csr-engagement.de