Im Kugel-Programm lernen Eltern, durch Gebärden mit ihren entwicklungsverzögerten Kindern zu kommunizieren

Wenn Gesche Köhler mit ihrer zweieinhalbjährigen Tochter Frida redet, benutzt sie nicht nur Worte, sondern auch Handzeichen. Denn anders als ihre Altersgenossen kann Frida noch nicht sprechen. Das Mädchen wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Die auch als Trisomie 21 bekannte Chromosomenstörung führt zu einer erschwerten Sprachentwicklung. „Bis jetzt kann Frida nur ganz wenige Worte sagen und es ist nicht sicher, wann sie wirklich sprechen lernt“, sagt ihre Mutter. Aber seit Gesche Köhler das Programm „Kugel“ am Werner-Otto-Institut mitgemacht hat, weiß sie, dass ihre Tochter auch jetzt schon viel ausdrücken möchte und dass es Möglichkeiten gibt, sich mit ihr zu verständigen.

„Kugel“ ist die Abkürzung für „Kommunikation mit unterstützenden Gebärden – ein Eltern-Kind-Gruppenprogramm“. Es wendet sich an Eltern von Kindern, deren Spracherwerb aufgrund von Entwicklungsstörungen oder Behinderungen verzögert ist. Erarbeitet wurde es von Heike Burmeister und Dorothee von Maydell. Die beiden Logopädinnen sind am Werner-Otto-Institut tätig, das als sozialpädiatrisches Zen­trum mit dem Ev. Krankenhaus Alsterdorf zusammenarbeitet und auf die Diagnose und Therapie von Entwicklungsstörungen bei Kindern spezialisiert ist.

Im Kugel-Programm leiten die Logopädinnen Eltern an, beim Sprechen mit ihren Kindern Gebärden einzusetzen. „Sie orientieren sich an der Deutschen Gebärdensprache und wir setzen sie in reduzierter Form ein“, erklärt Heike Burmeister. Das heißt, gesprochen wird ein ganzer Satz wie etwa: „Da ist der Ball“, und das wichtigste Inhaltswort, also Ball wird gebärdet. „Die Gebärden sollen aber auf keinen Fall die Sprache ersetzen, sondern als eine Möglichkeit dienen, die Kommunikation zu erweitern“, betont Heike Burmeister. Mit der Gestik fällt es Kindern oft leichter, die Sprache zu verstehen. „Kinder mit Down-Syndrom beispielsweise haben meist ein sehr gutes visuelles Verständnis“, erklärt Dorothee von Maydell. Wenn ihnen die Gebärden häufig vorgemacht werden, können sie diese selbst nachahmen und so ihre Bedürfnisse äußern.

„Manche Kinder lernen aufgrund ihrer Entwicklungsstörung erst mit vier oder fünf Jahren sprechen, die Gebärden ermöglichen es, die Zeit bis zum Sprechen zu überbrücken, und das kann zur Entspannung in der Familie beitragen“, sagt von Maydell. Denn wenn Eltern nicht verstehen, welche Wünsche, Ängste oder Fragen ihr Kind hat, führe das zu viel Frust – nicht nur bei den Kindern.

Die Lieblingsgebärde von Frida ist ein Halbkreis, den sie mit dem Finger quasi in die Luft zeichnet. Es ist das Zeichen für „noch mal“. Dann wissen ihre Eltern und inzwischen auch ihre beiden älteren Geschwister, dass ihr etwas besonders gut gefallen hat und sie es gern wiederholen möchte. „Für uns sind die Gebärden nicht nur hilfreich, sondern sie machen auch richtig Spaß“, sagt Gesche Köhler. Seit sie das Kugel-Programm mitgemacht hat, sei die Verständigung mit Frida viel intensiver geworden, sagt sie.

Das Kugel-Programm läuft über drei Monate. In der Zeit treffen sich Mütter, Väter oder andere nahe Bezugspersonen zu fünf Elternabenden und einem Gruppentreffen mit Eltern und Kindern. Auch ein Einzeltermin mit Videoaufzeichnung gehört zum Programm. „Um die Gebärden zu erlernen und in der Familie zu integrieren, braucht es mehrere Wiederholungen, deswegen ist das Programm über den längeren Zeitraum angelegt“, sagt Heike Burmeister. Doch bevor es an den Abenden mit den Gebärden losgeht, lernen die Eltern, „eine sprachförderliche Grundhaltung einzunehmen“, sagt ­Dorothee von Maydell. Dazu gehöre, sich auf Augenhöhe zum Kind zu begeben, bewusst den Blickkontakt mit ihm aufzubauen und abzuwarten, welche Signale vom Kind ausgehen. Und ihm beim gemeinsamen Spielen oder Vorlesen genügend Zeit für Reaktionen zu geben. „Das führt dazu, dass man sich intensiver mit seinem Kind beschäftigt und auf einmal merkt, was Kommunizieren alles bedeuten kann“, sagt ­Gesche Köhler.

Schrittweise lernen die Eltern dann, verschiedene Gebärden anzuwenden. „Welche Begriffe die Familien brauchen, entscheiden sie nach ihren Bedürfnissen. Wenn etwa vor dem Haus einer Familie gerade ein Bagger steht, dann ist das wichtig, während es für eine anderes Kind die Rutsche in der Kita sein kann“, sagt Heike Burmeister. Was die Mütter oder Väter im Kurs erarbeiten, tragen sie in ihre Familien hinein und gemeinsamen erstellen sie einen eigenen Gebärdenwortschatz, den sie auch an Betreuer in der Krippe oder Kita weitergeben können. Oft unterstützen sich die Teilnehmer auch gegenseitig mit Tipps. Und das ist gewollt. Denn ein weiterer wichtiger Aspekt des Programms ist der Austausch der Eltern untereinander. „Die Eltern sehen, dass sie in ihrer Situation nicht allein sind, und stärken sich gegenseitig, das ist ­etwas, was in den Einzeltherapien, zu denen sie mit ihren Kindern sonst kommen, einfach fehlt“, sagt Heike Burmeister. Das hat auch Gesche Köhler als positiv empfunden. „Es herrschte eine offene Atmosphäre und es gab keine Konkurrenzgedanken, dass etwa ein Kind schon mehr kann als die anderen“, sagt Gesche Köhler.

Das Elterntraining zur Anwendung unterstützender Gebärden ist deutschlandweit einmalig. Bislang wird es von keiner Krankenkasse finanziert. Für Kursmaterial, Fortbildung und die Teilnahme von Eltern sind Spenden notwendig. Heike Burmeister und Dorothee von Maydell möchten auch Workshops für Fachpersonal in Kitas anbieten. „Denn wir sehen regelmäßig, welche positive Wirkung das Programm auf die Entwicklung der Kinder hat“, sagt Heike Burmeister.

Infos: Dorothee von Maydell, Heike Burmeister, Werner-Otto-Institut, Tel. 50 77 02,
E-Mail: spz@werner-otto-institut.de