Keine andere deutsche Stadt hat so viele erfolgreiche Musiker hervorgebracht. Thomas Andre, Tino Lange und Birgit Reuther haben die Musiksammlung der Hansestadt durchgehört – und eine Liste der besten Platten zusammengestellt
Auf einem Sampler mit Songs aus Hamburg könnte Fettes Brot auf James Last folgen und Nena auf Freddy Quinn. Man könnte aber auch einen Mix ganz ohne die Genannten machen und stattdessen Tocotronic, Ina Müller, Samy Deluxe und Scooter nehmen. Vielleicht sollte jemand mal ein Pop-Quartett daraus machen. Fünf Nummer-eins-Alben, sticht. Bester Krautrock-Bandname. Platte mit dem meisten „Remmidemmi“. Die beste „Hamburger Schule“, Diskursrock und so, Blumfeld: sticht!
Es waren unbestreitbar die 90er-Jahre, in denen Hamburg zur Popmetropole der Nation aufstieg. Die Musikhörer des Landes wurden mit der nordischen Zange gepackt: Auf der einen Seite der legendäre Verbund um Blumfeld und Tocotronic, die „Hamburger Schule“, in der smarte und anspruchsvolle Texte von jungen Männern in Trainingsanzügen gesungen wurden, die sich dabei an ihren Gitarren festhielten. Auf der anderen Seite die Hip-Hop-Heroen: Fettes Brot, Absolute Beginner, Dynamite Deluxe, Fünf Sterne Deluxe, Deichkind. In Hamburg war die Szene, waren Studios, Labels, Clubs, Konzerte – und das schon länger, wie es sich für eine Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern gehört, die etwas auf Popkultur gibt. Aber das Hamburg-Etikett, das auf die Gesamtmarke einzahlt, das wurde so erst in den Nachwende-Jahren entdeckt.
Dabei beginnt die Popgeschichte Hamburgs viel früher. Dass Hamburg in der populären Musik in vorderer Front eine Rolle gespielt hat, weiß, so ist jedenfalls zu hoffen, jedes Kind, dessen Eltern Wert auf Allgemeinwissen legen. Die Beatles spielten sich 1960, 1961 und 1962 auf St. Pauli für ihre Weltkarriere warm und bekamen außerdem ihre Pilzfrisur verpasst. Eine „Hamburger Band“ waren die Beatles aber freilich nicht, auch nicht die Liverbirds, die erste wichtige Girl-Rockband.
Für die auf diesen Seiten abgebildete Hamburg-Hitparade gilt: Zur Popmusik, Abteilung Hamburg, zählt, wer sein Werk ganz oder zu einem Teil hier geschaffen hat und fest mit dem Ort der Entstehung verbunden ist. Marius Müller-Westernhagen, der eine Zeit lang der größte deutsche Rockstar war, lebt seit Längerem in Berlin (heißt nicht nur für ihn fünf Plätze Abzug); den weitaus längsten Teil seines Berufslebens hat er freilich in Hamburg verbracht. Alle bahnbrechenden Albumveröffentlichungen Westernhagens stammen aus seiner Hamburger Zeit. Er ist einer der vielen Zugezogenen ins Popmekka Hamburg, das auch durch den gigantischen Berlin-Hype (jaja, sicher: Berlin ist schon auch ganz toll, was Pop angeht!) nie an seiner Anziehungskraft eingebüßt hat.
Womit wir bei dem anderen Elder Statesman des „Deutschrock“ wären; ein Begriff übrigens, bei dem sich die Nackenhaare jedes aufrechten Hamburger Indiepoppers – und von denen gibt es viele – aufstellen. Der andere Gigant aus Hamburg also, der, der trotz mancher Flirts immer noch an der Alster lebt: Udo Lindenberg. In den 70er-Jahren wohnten Westernhagen und Lindenberg gemeinsam mit Otto Waalkes und Gottfried Böttger in einer Künstler-WG in Winterhude, der berühmten „Villa Kunterbunt“. Eine von vielen Anekdoten der Hamburger Musikgeschichte wie die Star-Club-Ära, der Jazz bzw. „Jatz“, die Techno-Epoche der 90er, die „Hamburg ’75“-Szene (Lonzo, Willem, Rentnerband, Rudolf Rock, Leinemann) oder die Hip-Hop-Rudelbildungen wie Mongo Clikke, Rattos Locos und 187 Strassenbande, die auf Alben bezogen hier aber schwer abzubilden sind.
Anekdoten, Legenden, zu denen im Übrigen viele Spielarten der Popmusik gehören. Freddy Quinn, zugezogen aus Österreich, mit seinen Seemannsliedern und der gebürtige Bremer James Last mit seinen Easy-Listening-Kompositionen sind deshalb auch in den Top 50 vertreten. Weil in beinahe sechs Jahrzehnten eine Menge an wegweisenden, kommerziell erfolgreichen und tollen Albumveröffentlichungen zusammengekommen ist, war für diese Auflistung eine weitere Regel notwendig: pro Interpret nur ein definitives Album. Was in keinem Fall heißt, dass Künstler wie Blumfeld, Lindenberg und Tocotronic nur ein wichtiges Werk herausgebracht haben, ganz im Gegenteil.
Und auch sonst war bei der Zusammenstellung nach wilder Debatte manches Opfer zu bringen – die „lobenswerten Erwähnungen“ stehen auf dieser Doppelseite ganz rechts. Und da sind fantastische Platten dabei, auch wenn manche Künstler seinerzeit in Norderstedt (Mike Krüger) oder Seevetal-Maschen (Truck Stop) lebten.
Ist das eine in Stein gemeißelte Liste? Ganz sicher nicht. Es gibt keine qualitativen Abstufungen und auch keine Geschmacksgrenzen zwischen Rock, Pop, Hip-Hop, Metal oder Schlager. Denn diese Liste soll vor allem eine Anregung sein, mal wieder daheim oder im Plattenladen ins Regal zu greifen oder auf Laptop und Smartphone eine Playlist aus lauter wunderbaren Hamburger Klassikern zusammenzuwürfeln. Hamburg ist die Rockcity, Hamburg ist Poplaboratorium – und Hamburg ist die Stadt der guten Musik.
Der Sender Hamburg funkt immer, und wir haben seine Wellenlänge.