Henrick Wentzel ist seit seinem Schlaganfall ein Pflegefall. Seine Frau hat ein Buch geschrieben und möchte eine betreute WG gründen
Dass ein Familienleben von einem Moment auf den nächsten komplett aus den Fugen gerät und nichts bleibt, wie es zuvor war, ist leider kein Einzelfall. Selten jedoch wurde ein solches Schicksal – aus Sicht der Angehörigen – so einfühlsam, offen und teilnahmsvoll beschrieben wie in dem just erschienenen Buch „Käsekuchen mit Sauerkraut“. Der Untertitel erklärt das Drama dahinter: „Mein Mann, sein Schlaganfall und der ganze Irrsinn danach“. Der Vorfall hat sich in Hamburg ereignet.
Der Erlös des Buches soll das Fundament für eine betreute Wohngemeinschaft bilden. Ziel ist es, in diesem „Haus für morgen“ Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen und körperlichen Einschränkungen ein behindertengerechtes Leben zu ermöglichen. Würde soll großgeschrieben werden. Dank vieler Spenden aus dem Freundeskreis der Familie konnten erste Schritte eingeleitet werden.
„Um das Projekt zu verwirklichen, habe ich mich entschlossen, mit unserer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagte Barbara Wentzel in einem Gespräch mit dem Abendblatt. Das gemeinsam mit der Autorin Miriam Collée verfasste Buch sei quasi der Startschuss. Aktuell wird so etwas wie ein Resthof mit Bauernhaus, Nebengebäuden und etwa zwei Hektar Land im Großraum Hamburg gesucht. Weiterhin vonnöten sind ehrenamtliche Mitstreiter sowie Sponsoren für Geld- und Sachspenden.
„Ich hätte es niemals für möglich gehalten, solche Kapitel zu erleben und zu schreiben“, sagt Frau Wentzel. Doch der 3. April 2013 stellte das Leben ihrer Familie auf den Kopf. Um 7.10 Uhr hörten die Ehefrau und Kinder einen dumpfen Knall im Badezimmer. Ehemann und Vater Henrik Wentzel hatte einen Schlaganfall erlitten. Der Notarztwagen kam wenige Minuten später. Profis waren an Bord. In der für solche Fälle spezialisierten „Stroke Unit“ des Krankenhauses Altona wurden erste Rettungsmaßnahmen eingeleitet. In mehreren Operationen konnte das Leben des damals 56-Jährigen gerettet werden.
Die Diagnose: „Ischämie im MCA-Gehirn“. Ein winziges Blutgerinnsel hatte ein Gefäß verstopft und die Durchblutung des Gehirns gestört. Das kann jedem passieren. Jederzeit. Das Glücksgefühl einer Normalität war schlagartig für Barbara Wentzel verschwunden.
Zuvor führten sie ein Familienleben wie aus dem Bilderbuch. Das Ehepaar hatte sich in Paris kennen- und lieben gelernt. Barbara, in Wien geboren und in der französischen Metropole aufgewachsen, wirkte im Marketing. Der gebürtige Bremer Henrik arbeitete nach seinem Studium in Hamburg für eine deutsche Bank in Paris. Mit Barbara zog er zurück nach Othmarschen. Nach und nach kamen ein Mädchen und zwei Jungen zur Welt. „Henner“ segelte, fuhr Rennrad, hatte einen großen Freundeskreis. Als Finanzvorstand einer Reederei ging es ihm wirtschaftlich gut. Er galt als Alphatier, als anpackender Mann mit feinem Humor und Empathie für Mitmenschen.
Der Familie und dem Freundeskreis sei Dank, stand Henner Wentzel niemals alleine da. Zwar lösten sich die Ersparnisse von Monat zu Monat immer mehr auf, doch machte freundschaftliche Solidarität eine Menge wett. Ehefrau Barbara initiierte via Internet eine Liste, in der Freunde ihre Besuche im Krankenhaus koordinierten. Auf die Beine kam Henner Wentzel nicht wieder, er sitzt seither im einem Rollstuhl, ist ein Pflegefall. Es tut ihm gut, Freunde an seiner Seite zu haben. Anderen Betroffenen ergeht es fraglos noch schlimmer – materiell und menschlich.
Dennoch zeigte sich zusehends, dass der Hirnschlag nicht nur einen Großteil der rechten Gehirnhälfte zerstört und seine linke Körperhälfte lahmgelegt, sondern auch sein Wesen verändert hatte. „Barbara lernte zu verstehen, was es bedeutet, wenn der Mann, den man liebt, nur noch schwer zu berechnen ist“, weiß Co-Autorin Miriam Collée. In Henrik Wentzels Fall sind Teile des Gehirns betroffen, die für Gefühle, Wahrnehmungen und das Einordnen von Raum, Zeit und Realität zuständig sind. Es handelt sich um jene Region, in der die Persönlichkeit und das Sozialverhalten angesiedelt sind.
Im Buch sind Details beschrieben, die auch dem Leser an die Nieren gehen. Die Autorinnen wollen anderen Betroffenen trotzdem Mut machen. Der auf den ersten Blick unverständliche Titel offenbart während der Lektüre seinen Sinn. Henrik Wentzel, der früher gutes Essen liebte, bat auf einmal um Käsekuchen mit Sauerkraut und Sahne. Zum Beispiel. Nichts, wirklich gar nichts ist mehr so, wie es einmal war.
Seit vier Jahren navigieren Ehefrau Barbara und die drei Kinder durch ein Chaos aus Treppenliften, zwielichtigen Agenturen und zumeist polnischen Pflegekräften. Einige von ihnen leisteten Außerordentliches. Die Familie weiß nun, was Barthel-Index-Listen sind und wie ratlos Vormundschaftsrichter sein können. Die Tücken des deutschen Pflegesystems sind ihnen vertraut.
Problem Nummer eins ist weiterhin ungelöst: Wie kann Henriks 24-Stunden-Pflege sinnvoll organisiert werden? „Dauerhaft ist das weder mach- noch finanzierbar“, sagt Frau Wentzel. In ein Pflegeheim für Senioren soll der heute 60-Jährige nicht abgeschoben werden. Trotz allem ist der Mann noch vital. Außerdem folgt ein kleiner Fortschritt dem nächsten.
Ein Erlebnis während des Sommers ließ einen anfangs kühnen Gedanken keimen. Gemeinsam mit einem Bekannten und einer Pflegekraft aus Polen verbrachte Herr Wentzel mehrere Wochen in einem Ferienhaus an der Schlei. „Diese Wohngemeinschaft machte ihn glücklich wie lange nicht mehr“, sagt Barbara Wentzel. Seite an Seite beschlossen Familie, Freunde und Bekannte, die Aktion „Ein Haus für morgen“ anzupacken. Nicht nur in Henriks Interesse, sondern für bis zu acht weitere Menschen mit ähnlichem Handicap. Anfang August dieses Jahres wurde ein gemeinnütziger Verein gegründet. Sein Motto: „Der begleitete Start in ein neues Leben“. Der Verein will Menschen, die durch Unfall oder Krankheit aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurden und auf Pflege angewiesen sind, ein neues Zuhause schaffen. Es soll eine betreute Wohngemeinschaft sein, keine „Aufbewahrungsstation“ für Pflegefälle. Einzelheiten und konkrete Pläne stehen im Internet unter www.haus-fuer-morgen.com.
„Bei der Suche nach einer geeigneten Einrichtung stellte ich fest, dass entsprechende Angebote in Hamburg und Umland – wenn überhaupt vorhanden – sehr rar und aus unserer Sicht nicht passend sind“, sagt Barbara Wentzel. Während Krankenhäuser der Hansestadt in Sachen prompter Hilfe bei Schlaganfällen vorbildlich aufgestellt sind, mangele es an entsprechender Infrastruktur. In anderen Teilen Deutschlands, weiß sie, gebe es viel mehr und erheblich bessere Angebote. Mit ihrem Haus für morgen soll das jetzt geändert werden.
Barbara Wentzel mit Miriam Collée:
„Käsekuchen mit Sauerkraut – Mein Mann, sein Schlaganfall und der ganze Irrsinn danach“, Piper Verlag, 288 Seiten, 20 Euro