Die Hamburger Band The Rivets spielte 1965als Vorgruppe von Mick Jagger & Co. Für Kuno Dreysse, Henner Hoier und Joachim Koschnitzke ein unvergessenes Erlebnis. Von Jan Haarmeyer

Sie waren näher dran an den Rolling Stones als jeder andere Hamburger. Zumindest für acht Tage. Henner Hoier, Kuno Dreysse und Joachim Koschnitzke tourten vor 52 Jahren mit der britischen Band durch Deutschland und spielten zusammen fünf Konzerte. In Münster, Essen, Hamburg, München und Berlin – und abschließend noch eines in Wien. Eine gute Woche lang kreuzten sich ihre Wege. Die Rivets, eine Spaßband mit gut aussehenden Hamburger Jungs, vielleicht so etwas wie die erste deutsche Boygroup. Und die Stones, schon damals eine Sensation.

Es ist September 1965. Die Bundesrepublik ist noch nicht volljährig und schwankt zwischen Muff und Aufbruch, als aus England „Satisfaction“ herüberschwappt. Ein Song wie ein Aufschrei, der seinen Siegeszug um die Welt antritt. Er hält bis heute an. Den Auftritt von Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ron Wood im Stadtpark werden am Sonnabend 82.000 Besucher verfolgen. Viele sind mit den Stones, die zusammen 293 Jahre alt sind, älter und grauer geworden. Was sie eint, ist der Rock ’n’ Roll. Und so geben heute eben die 70-Jährigen den Ton an.

87 Verletzte beim Konzert in der Berliner Waldbühne

Damals wäre das unvorstellbar gewesen. Für die Älteren im Deutschland der 1960er-Jahre war die Hysterie der vor allem weiblichen Fans und die rasende Begeisterung um Mick Jagger und seine ekstatische Bühnenshow vor allem ein Schock. Sie reagierten darauf mit Unverständnis, Abneigung und moralischen Appellen.

Stellvertretend dafür stand Karl Korn. Der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb, dass er von den Rolling Stones, „die die Haare länger tragen als Mädchen und eine erbärmlich einfallslose Musik zum besten geben“, vor dem 11. September 1965 noch nie etwas gehört hatte. Korn sah durch die neue Beatmusik die Jugend gefährdet.

In der „Deutschen Wochenschau“ kommentierte der Sprecher zu Film-Aufnahmen von Mick Jagger und völlig aufgelösten jungen Mädchen, da finde „eine Zwiesprache zwischen Mick Jagger und seinen minderjährigen Opfern“ statt. Und weiter im Text: „Beobachter notieren geistige Abwesenheiten ohne Bewusstseinsverlust.“

Beim Konzert in der Berliner Waldbühne kam es am 15. September 1965 zu schweren Krawallen. „Aufgepeitscht durch die hämmernden Rhythmen der Stones“, schrieben die Zeitungen, „verfielen jugendliche Beatfans der Massenpsychose.“ Nach dem Konzert glich die Waldbühne einem Schlachtfeld. „Halbwüchsige hatten systematisch und mit geradezu krankhafter Genugtuung Bänke zertrümmert, Zäune umgerissen und Laternenpfähle umgestürzt, terrorisierten den S-Bahn-Verkehr. Die Schadenssumme geht in die Hunderttausende.“ Es gab 87 Verletzte, 17 S-Bahn-Züge wurden demoliert.

Die smarten Jungs aus Hamburg bekamen davon nicht richtig viel mit. Joachim Koschnitzke erinnert noch, dass sich ein Fan bis auf die Unterhose auszog und auf einen Fahnenmast kletterte. „Wir standen hinter der Bühne“, sagt Kuno Dreysse, „und ich habe noch gesehen, wie Brian Jones, der viel zu früh verstorbene Gitarrist, von einem Ei, das auf die Bühne flog, getroffen wurde.“

Die Rollenverteilung war klar. „Natürlich waren die Rolling Stones damals die Stars, und wir waren die Vorgruppe, auch wenn wir alle genauso lange auf der Bühne gespielt haben“, sagt Henner Hoier. Drei Bands waren mit den Stones auf Tournee, jede Gruppe stand eine knappe halbe Stunde auf der Bühne. Und zwar zweimal am Tag. In Hamburg in der Ernst-Merck-Halle um 17.30 und um 21 Uhr. Beide Konzerte waren mit je 5000 Zuschauern ausverkauft. „Hier hatten wir ein Heimspiel“, sagt Henner Hoier.

Was haben sie damals gespielt? „Fünf Coversongs, die wir tagelang eingeübt hatten“, sagt Hoier. „Mit denen belegten wir Platz eins beim Star-Club-Wettbewerb und wurden deshalb von der ,Bravo‘ für die Stones-Tournee gebucht.“ „Zur Vorbereitung auf die Tournee hatten wir uns in einer Scheune in Bayern eingemietet“, sagt Joachim Koschnitzke, der durch eine Anzeige, die er im Abendblatt aufgegeben hatte, zu den Rivets gestoßen war. Die Band hatte gerade den Titel „Hamburger Beatles“ gewonnen. „Unser verstorbener Schlagzeuger Jens Engelhardt hatte vor der Stones-Tour die Idee, dass wir immer mit einem langen Teppich auf die Bühne kommen.“ Und auch ihre einheitliche Kleidung konnte sich sehen lassen, sodass die Zeitungen schrieben: „Für gute Stimmung sorgten auch die Rivets aus Hamburg, eine vergnügte Teenager-Band mit viel Spaß am eigenen Spiel. Ihr nicht sehr ausgefeiltes technisches Können machten sie mit ihren himmelblauen Hemden und dem Teppich in derselben Farbe wett, den sie vor ihrem Auftritt auf der Bühne ausrollten und auf dem sie dann rücklings ihre Gitarren bearbeiteten.“

Beim ersten Konzert in der Ernst-Merck-Halle 1965 forderte Kuno Dreysse die Zuschauer wie gewohnt zum Mitmachen auf: „Und nun rauf auf die Stühle.“ Vor dem zweiten Konzert kam Veranstalter Hans-Werner Funke zu ihm: „Kuno, hör auf damit, du bekommst eine Flasche Whiskey, wenn du das lässt.“ Hat er natürlich nicht. Wieder kletterten die Fans auf die Stühle, einige gingen zu Bruch. Aber mehr passierte in Hamburg nicht, dafür sorgten auch die Sicherheitskräfte. Kräftige junge Männer mit einer weißen Ordner-Binde, die bei jedem Konzert vor der Bühne in zwei Reihen, eine davon zum Publikum gewandt, mit strengen Gesichtern auf ihren Stühlen saßen. Dazu kamen zahlreiche Polizisten, die sich in Zivil unter das Publikum gemischt hatten.

Waren die rollenden Steine damals wirklich die „Bad Boys“, die im Gegensatz zu den netten Beatles pausenlos Drogen konsumierten und Groupies vernaschten? „Überhaupt nicht“, sagt Koschnitzke. „Es hieß ja damals, sie tränken Whiskey bis zum Abwinken und stellten primadonnenhafte Ansprüche – alles Quatsch! Das waren ganz normale junge Leute. Ihnen eilte zwar der Ruf voraus, dass sie obsessiv lebten und alle möglichen Drogen konsumierten, aber in meinen Augen war das nur ihr Image.“

Koschnitzke – Schulabbrecher, Arzt und Immobilienprofi

Auch die Rolling Stones spielten damals nicht länger als die Vorgruppen. Ihr Programm bestand aus acht Titeln, ein Musikredakteur hat einmal die exakte Auftrittszeit gestoppt: 22 Minuten. Und musikalisch? Da waren Mick Jagger und Keith Richards schon damals eine Klasse für sich. „Weil sie, nachdem sie anfangs ja auch nur gecovert haben, anfingen, ihre eigenen Songs zu schreiben“, sagt Dreysse. „Und weil sie sich ständig verbessert haben“, sagt Koschnitzke. „Sie waren kreativ und hatten tolle Songs mit sehr eingängigen Riffs.“

Und noch etwas war ausschlaggebend. „Die Stones hatten diese Besessenheit“, sagt Koschnitzke. „Das sah man in ihren Augen. Sie lebten und bewegten sich damals nach dem Motto: Wir machen unser Ding und lassen uns von niemandem aufhalten.“ Das sei ihr eigentliches Erfolgsgeheimnis gewesen. „Bei ihnen auf der Bühne sah immer alles so leicht aus. So als schüttelten sie den Auftritt mal eben aus den Hüften. Aber sie hatten alles bis ins kleinste Detail eingeübt.“

Und die Rivets? „Wir haben eine erfolglose LP produziert und dann noch eine Single, mit einem Titel der Beach Boys“, sagt Koschnitzke. „Barbara Ann“. Ihr Produzent Siggi Loch hatte erfahren, dass der Song in Kürze in Deutschland erscheinen sollte. „Wir nahmen ihn also in einem Berliner Studio auf, und er kam in Deutschland tatsächlich drei Wochen vor dem Original auf den Markt. Wir verkauften 10.000 Singles.“

Koschnitzke weiß noch, dass die Band damals fünf Prozent vom Verkaufspreis der Single bekommen hat. „Die kostete 3,50 Mark, also 17 Pfennig.“ Macht bei 10.000 Singles insgesamt 1700 Mark. „Geteilt durch vier waren das 425 Mark für jeden.“ Im Sommer 1966 waren die Rivets eine der bekanntesten deutschen Bands, wenig später aber verließ Koschnitzke die Truppe: „Auf der Bühne wurde mir immer klarer, dass wir musikalisch nicht gut genug waren – bis auf unseren zweistimmigen Gesang. Und ich war auch dafür, einen besseren Sologitarristen als mich zu holen.“ Er blieb dann noch für zwei Jahre Manager und holte sein Abitur nach.

Heute hat Koschnitzke ein schmuckes Haus am See, unweit von Hamburg. Er ist ins Immobiliengeschäft eingestiegen, nachdem er seine Praxis als Augenarzt in die Hände seiner Nachfolgerin gelegt hat. Gerade hat er bei Amazon seine Biografie „Die zerbrochene Hose. Lebensbrüche“ veröffentlicht. Es ist eine Geschichte über ein pralles Leben. Über seine Zeit als Schulabbrecher, Musiker und Chirurg. Als Frauen- und Augenarzt, der im Krankenhaus Ochsenzoll im Hochsicherheitstrakt auch Frauenmörder Fritz Honka behandelt hat: „Ein eher unbedeutendes Männchen, überhaupt kein Monster, sehr mimosenhaft“, schreibt Koschnitzke. Danach wurde er Unternehmer, stieg ins Immobiliengeschäft ein, baute Wohnungen in Eimsbüttel und betrieb auch eine Nachtbar.

Kuno Dreysse führte nach seiner Zeit bei den Rivets mit Achim Reichel und Frank Dostal den Star-Club, arbeitete später bei Musikverlagen, leitete die Diskothek Madhouse, war Moderator bei Okay-Radio und hat bei Hamburg 1 seit 1995 eine eigene Sendung: „Kuno’s“.

Auch Henner Hoier, der Mann mit der großartigen Stimme, ist bis heute der Musik treu geblieben. Gerade hat er eine Hamburg-Hymne mit dem Titel „De Hamborger Veermaster“ geschrieben. Nach den Rivets hat er bei den Les Humph­ries Singers gesungen und ist mit den Rattles auf Tour gegangen. Er hat Musik studiert, Hunderte von Songs komponiert und ist heute auch als Produzent tätig. Wann war Schluss mit den Live-Gigs? „Eines Tages sind wir mit den Rattles vor einem Baumarkt aufgetreten“, erzählt Hoier. „Als wir ,The Witch‘ spielten, der Song war in USA und England oben in den Charts, gingen die Leute stumpf an uns vorbei, um Schrauben und Dübel zu kaufen. Da habe ich mir gesagt, jetzt ist es auch gut.“